Berlin – «Zucker» ist schon lange eine Volkskrankheit: Um die sieben Millionen Menschen in Deutschland haben nach Angaben der Deutschen Diabetes Gesellschaft Diabetes, 95 Prozent davon vom Typ 2.
Für viele heißt das: regelmäßig den Blutzucker checken, regelmäßig Medikamente nehmen, eventuell Insulin spritzen und immer auf eine Unterzuckerung vorbereitet sein. Medikamente mit einem neuartigen Wirkmechanismus können die bisherige Therapie der Stoffwechselerkrankung verbessern – und zum Teil das Risiko für gefürchtete Folgeerkrankungen wie Herzinfarkt und Schlaganfall minimieren.
Insulinausschüttung wird angeregt
Die Rede ist von sogenannten Inkretin-Analoga. Sie wirken nicht wie etwa die etablierte Insulin-Therapie selbst Blutzucker senkend, sondern regen die Insulinausschüttung aus der Bauchspeicheldrüse an – wie es auch die Inkretin-Hormone aus dem Darm gesunder Menschen tun. Die ersten Präparate dieser Wirkstoffklasse sind bereits seit 2007 auf dem Markt. «Seitdem gab es eine sprunghafte Entwicklung, die die Qualität der Medikamente noch einmal deutlich verbessert hat», sagt Michael Nauck, Leiter der klinischen Forschung am Diabetes-Zentrum Bochum/Hattingen, im Vorfeld eines am 24. Januar beginnenden
Experten-Treffens zur Inkretin-Forschung in Bochum.
Die Präparate sind ausschließlich für Typ-2-Diabetiker geeignet – die Mehrheit aller Diabetiker. Typ-2-Diabetes ist eine klassische Zivilisationskrankheit. Sie entsteht meist infolge ungesunder Ernährung, zu wenig körperlicher Bewegung und damit zusammenhängend von Übergewicht. Weil die Bauchspeicheldrüse der Betroffenen nicht mehr genügend Insulin produziert und/oder die Körperzellen nicht mehr auf dieses Hormon reagieren, steigt der Blutzuckerspiegel an.
Viele Patienten können ihre Blutzuckerwerte durch eine Lebensumstellung in den Griff bekommen, indem sie sich gesünder ernähren und mehr Sport treiben. Reicht das nicht aus, können zunächst Tabletten helfen, die Blutzuckerwerte zu normalisieren, etwa mit dem Wirkstoff Metformin. Bei schätzungsweise mindestens 1,5 Millionen Menschen ist auch das nicht genug. Sie müssen Insulin spritzen.
Nachahmung von Inkretin-Hormonen
Die neueren Inkretin-Analoga wirken anders als Insulin. Sie imitieren die Inkretin-Hormone aus dem Darm. Von diesen weiß man bereits seit längerem, dass sie den Blutzuckerspiegel nach der Nahrungsaufnahme regulieren, etwa das Hormon GLP-1. GLP-1-Analoga ahmen dieses Hormon nach und regen die Bauchspeicheldrüse zur Bildung von Insulin an. Zudem hemmen sie die Ausschüttung von Glucagon, das den Blutzuckerspiegel steigen lässt, und verlangsamen die Entleerung des Magens. Sie wirken auch im Gehirn, vermindern Hunger und verstärken das Sättigungsgefühl.
Es sind bereits mehrere Varianten der GLP-1-Analoga verfügbar, die sich unter anderem dadurch unterscheiden, wie häufig sie eingenommen werden müssen. Das Spektrum reicht von zweimal täglich bis zu einmal pro Woche. Allen Präparaten gemein ist, dass sie keine Unterzuckerungen auslösen können. Bei einer Insulin-Therapie bestehe immer das Risiko einer Unterzuckerung, die Dosis müsse ständig ausbalanciert werden, erläutert Juris Meier, Chefarzt des Diabetes-Zentrum Bochum/Hattingen. «Das ist mit den Inkretin-Analoga nicht nötig.»
Auswirkung auf den Stoffwechsel
Deshalb sei auch die tägliche Bestimmung des Blutzuckerspiegels – meist über einen Piekser in die Fingerkuppe – überflüssig, ergänzt Nauck, der an der Erforschung der Therapeutika maßgeblich mitgewirkt hat. Die Einstellung mit den Medikamenten sei so stabil, dass eine vierteljährliche Kontrolle des Langzeit-Blutzuckerwerts ausreiche.
Ein weiterer entscheidender Vorteil: Klinische Studien haben gezeigt, dass die
GLP-1-Analoga das Risiko für einige gefürchtete Folgeerkrankungen des Typ-2-Diabetes senken können, für Herzinfarkt oder Schlaganfall etwa.
«Die neuen Präparate werden Insulin in der Diabetes-Therapie nicht verdrängen», sagt Nikolaus Scheper, der eine diabetologische Praxis in Marl betreibt. «Aber wir haben mit den Mitteln einen besser gefüllten Werkzeug-Koffer für die Behandlung zur Verfügung.»
Einen zentralen Vorteil der GLP-1-Analoga sieht der Mediziner, der auch erster Vorsitzender des Bundesverbandes der niedergelassenen Diabetologen ist, in der Tatsache, dass die meisten Patienten bei Beginn der Therapie abnehmen, in etwa vier bis fünf Kilo. «Das hat direkte Auswirkungen auf den Stoffwechsel. Jedes Kilo zählt.»
Auch Meier sieht in dem Gewichtsverlust eine Riesenchance. «Das motiviert die Patienten erheblich. Wir haben schon erlebt, dass Patienten, die teilweise schon Insulin gespritzt haben, mit Inkretin und einer begleitenden Schulung zur Lebensstiländerung davon wieder weggekommen sind.»
Weiterer Durchbruch erwartet
Nauck geht davon aus, dass die Präparate der nächsten Generation sogar noch effektiver auf das Gewicht wirken und auch den Blutzucker stärker senken. Zudem seien Medikamente kurz vor Beantragung einer Zulassung, die oral eingenommen werden können – also nicht mehr gespritzt werden müssen. «Das ist ein richtiger Durchbruch.» Eine sehr kleine, noch nicht veröffentlichte Studie sei zu dem Ergebnis gekommen, dass auch bei dieser Art der Einnahme das Risiko von Herzkreislauf-Folgeerkrankungen gesenkt werde.
Für etwa fünf bis zehn Prozent seiner Patienten komme die Inkretin-Therapie aufgrund der Nebenwirkungen nicht infrage, sagt Diabetologe Scheper. Das sind vor allem Völlegefühle und Übelkeit bis hin zum Erbrechen. Für diese Patienten stehen eine Reihe etablierter Präparate zur Verfügung, nicht zuletzt Insulin.
Auch Patienten, die Inkretin-Analoga bekommen, müssen eventuell irgendwann auf Insulin umsteigen. Ist der Punkt erreicht, an dem die Bauchspeicheldrüse selbst nicht mehr ausreichend Insulin produziert, muss dieses von außen verabreicht werden, wie Scheper sagt. «Diabetes ist eine chronische und eine fortschreitende Erkrankung. Die bringt man nicht einfach so zum Stillstand.»
(dpa)