Mehr Kinder von sexualisierter Gewalt betroffen

Rostock – Kindesmissbrauch ist ein Verbrechen, das meist im engsten Familien- und Bekanntenkreis geschieht, also dort, wo sich Kinder eigentlich geschützt fühlen sollten.

«Sexualisierte Gewalt ist mit das Schrecklichste, was man einem Kind antun kann. Sie bringt langfristige Folgen hervor», sagt Sabrina Drews von der
Rostocker Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt. Sie und ihre Kollegen in den zahlreichen Beratungsstellen bundesweit sind täglich mit teils unvorstellbar grausamen Fällen konfrontiert. Am 3. April stellte die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs ihre Bilanz vor.

Hilfe und Rat suchen

Die Ratsuchenden, die zu Drews kommen, sind Angehörige von Kindern, Kinder und Jugendliche selbst oder auch Erwachsene, die sich nach vielen Jahren mit ihrer oft verdrängten Vergangenheit konfrontiert sehen. Im vergangenen Jahr sind in Deutschland mehr minderjährige Opfer sexueller Misshandlungen registriert worden als noch 2017. Der aktuellen Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts zufolge wurden 2018 insgesamt 13.683 Kinder als Opfer sexuellen Missbrauchs erfasst. 2017 waren es noch 12.850.

«Das Dunkelfeld ist viel, viel größer», sagte jüngst Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD). In jeder Schulklasse seien ein bis zwei Kinder betroffen – sie gehe von einer Million Kindern in Deutschland aus. Dabei gehe es um Berührungen, sexuelle Belästigung bis hin zu Missbrauch.

Psychische Belastungen im Erwachsenenalter

Drews erzählt, viele Betroffene hätten im Erwachsenenleben mit schwerwiegenden psychischen Belastungen wie Depressionen zu kämpfen, auch im Sexualleben gebe es Schwierigkeiten. Aber meist seien die Folgen behandelbar. Klar ist aber auch: «Das Ereignis kann nicht gelöscht werden und es muss gut in die Biografie integriert werden. Und wenn das gelingt, ist eine Genesung wahrscheinlich.»

Die Gewalt-Definition fällt schwierig aus, wie Drews sagt. Denn jeder Mensch habe eine persönliche Grenze und einen eigenen Charakter, die es zu akzeptieren gelte. Unter Misshandlung fallen demnach scheinbar ungewollte Berührungen, unfreiwillige Doktorspiele, Kinder Pornos schauen lassen, vor Kindern masturbieren oder Sex mit Kindern. «Dabei sind nicht nur Männer die Täter», sagt Drews.

Sensibilisierung der Öffentlichkeit wichtig

Der Chef der Deutschen Kinderhilfe, Rainer Becker, betont, es sei nicht möglich, sexuelle Gewalt gegen Kinder völlig zu verhindern. Deshalb sei es wichtig, die Öffentlichkeit für sexuelle Gewalt zu sensibilisieren. Diese sei nicht leicht zu erkennen.

«Alle Berufsgruppen, die mit Kindern arbeiten, müssen qualifiziert werden, Hinweise und Signale von Kindern wie Verhaltensänderungen frühzeitig zu erkennen.» Denn je früher sexuelle Gewalt erkannt wird, desto schneller und umfassender könne einem Kind geholfen werden.

Häufig sind die Täter aus dem Familien- und Bekanntenkreis

Drews sagt, Übergriffe gebe es zu vier Fünfteln im Familien- und Bekanntenkreis. «Das macht es unfassbar für Angehörige.» Es sei eine normale Reaktion, dass eine Mutter aus allen Wolken falle, wenn ein solcher Verdacht gegen ihren neuen Partner aufkomme. Dabei gebe es Täter, die schon bei der Partnerwahl den Missbrauch planten. «Das ist nicht etwas, weil es sich halt so ergeben hat.» Diese Täter schafften es auch, ihre Taten unter einen extrem hohen Geheimhaltungsdruck zu stellen: «Den Kindern wird Angst gemacht.»

Wenn Kinder oder Jugendliche betroffen seien, müsse es erstmal heißen: «Kurzfristig Schutz herstellen.» Das Kind sei dem Wirkungsbereich des mutmaßlichen Täters zu entziehen. «Die Kinder müssen die Kontrolle zurückerlangen. Das ist der Faktor, der sich letztlich als heilsam auswirken kann», sagt die Pädagogin.

Die Erfahrungen zeigten, dass die Folgen der sexuellen Gewalt verschlimmert würden, wenn Hilfe ausbleibe. Die traurige Realität sei, dass Kinder bis zu acht Mal von den Erlebnissen erzählen müssten, bis ihnen geholfen werde, sagt Drews. «Viele Erwachsene, die zu uns kommen, berichten, dass die Gewalterfahrung schlimm war. Aber viel schlimmer war, dass ihnen niemand zugehört, niemand geglaubt und niemand geholfen hat.»


(dpa)

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