Berlin – Tierschutz kann in Deutschland extreme Formen annehmen. In Hannover gab es im Frühjahr eine Mahnwache für den Kampfhund Chico, der seine Besitzerin und deren Sohn totgebissen hatte. Danach war er, auch wegen einer schweren Kieferverletzung, eingeschläfert worden.
Bei der Mahnwache legten etwa 80 Menschen Blumen, Kerzen und Stoffhunde nieder. «Chico ist ermordet worden», stand auf einem Plakat. Gegen beteiligte Tierärzte und Behördenmitarbeiter gingen Morddrohungen ein.
Für die Soziologin Julia Gutjahr von der Universität Hamburg sind die Vorkommnisse zum Teil mit einer neuen Sensibilität für das Schicksal von Tieren zu erklären. Fast jeder sieht sich heute als Tierfreund. «Gleichzeitig bleibt Empathie mit Tieren jedoch hochgradig selektiv und ambivalent», meint Gutjahr.
Zum Welttierschutztag am 4. Oktober lässt sich feststellen: Die Rechte der Tiere finden mehr Beachtung – aber sie selbst profitieren nur begrenzt davon. Bestimmte Tiere können dem Menschen gar nicht nah genug sein. Vorgewärmte Ruhekissen, Pinscher mit Poncho oder Maniküre-Sets für gepflegte Pfoten – nichts ist zu ausgefallen und zu teuer, wenn es um das Wohlergehen von Hund und Katze geht. Gleichzeitig ist ein Kilo Fleisch oft für weniger Geld zu haben als ein Kilo Erdbeeren oder eine Schachtel Zigaretten.
Der Widerspruch erklärt sich dadurch, dass Haus- und Nutztiere in völlig unterschiedliche Kategorien eingeordnet werden. «In unserer Gesellschaft sind Tiere in «essbar» und «nicht-essbar» unterteilt», sagt die Psychologin Tamara Pfeiler von der Uni Mainz. Die Unterscheidung in Haus- und Nutztier entstand im Zuge der Industrialisierung, als Menschen in großer Zahl in die Städte zogen und fortan nur noch mit ganz bestimmten Tieren unter einem Dach lebten.
Haustiere haben sich seitdem zu Familienmitgliedern entwickelt. «Das ist etwas vollkommen anderes als ein Nutztier», erläutert der Ernährungspsychologe Christoph Klotter von der Hochschule Fulda. «Wir können die Katze Bijou niemals vergleichen mit dem anonymen Schwein.»
Schlachttiere treten im Leben der meisten Deutschen nicht lebend in Erscheinung. Die persönliche Konfrontation mit dem Braten ist keineswegs erwünscht. Vergangenes Jahr bot ein Bauer in der Vorweihnachtszeit in der Kölner Fußgängerzone lebende Gänse als Festtagsschmaus an. Interessierte Kunden konnten sich ein Tier aussuchen, das dann vom Bauern betäubt, geköpft und gerupft wurde. Viele Passanten zeigten sich schockiert, manche brachen in Tränen aus. Dabei stand zweifelsfrei fest, dass die Freilaufgänse vom Bauernhof bis dahin ein glückliches Leben geführt hatten. Sie waren so «bio» wie nur möglich. Dennoch wollten sich die meisten Menschen der Transformation von Lebendware zum Fleischprodukt nicht aussetzen – neun der zehn Tiere wurden schließlich freigekauft.
Das Experiment der WDR-Sendung «Planet Wissen» offenbarte einmal mehr das gespaltene Verhältnis zum Tier. «Aus Deutschland werden Hühnerfüße exportiert, nach Afrika», erzählt Klotter. «Denn die Deutschen würden vor Entsetzen umkippen, wenn sie Teile des Huhns sähen, die daran gemahnen, dass es mal ein Tier war.»
Derselbe Tierfreund, der ein Insekt aus dem Haus trägt und vorsichtig im Garten aussetzt, kann gleichzeitig sein Schnitzel vom Discounter beziehen. Aus Fernsehdokumentationen hat man zwar eine vage Vorstellung davon, unter welch elenden Umständen die meisten Nutztiere gehalten werden, «doch der direkte Link zum eigenen Verhalten fehlt», erklärt die Tierethik-Philosophin
Friederike Schmitz. «Wenn ich einen Hund einsperre, jault der. Bei Haustieren sehe ich in vielen Fällen sofort die Auswirkungen meines Handelns. Aber wenn ich Fleisch kaufe, sehe ich nicht den direkten Effekt für das jeweilige Tier.»
Dennoch gelte ganz klar, dass der Tierschutz an Bedeutung gewinne, betont der Soziologe Marcel Sebastian von der Universität Hamburg. «Fleischreduktion und Fleischverzicht ist ein großes Thema.» Es sei zwar schwierig, den Anteil der Vegetarier an der Bevölkerung zu ermitteln. Unstrittig sei aber, dass er zunehme und der Markt darauf entsprechend reagiere. «Viele Fleischunternehmen bieten jetzt auch vegetarische Produkte an. Die Medien berichten immer häufiger, Sachbücher zu Tierschutzthemen werden Bestseller. Es bekommt auch eine zunehmende politische Relevanz, sich mit Tierschutz zu beschäftigen.»
Sebastian glaubt deshalb, dass das Thema künftig noch wichtiger werden wird. «Es gibt das Bedürfnis, die Beziehung zu Tieren, auch zu Nutztieren, neu auszuhandeln. Meine Prognose ist, dass wir da vor einem grundlegenden Wandel stehen.»
(dpa)