Frankfurt – Nach einem Krisengipfel im «Mannschaftsflieger» hinterließ ein müder und vom historischen WM-K.o. gezeichneter Joachim Löw die Fußball-Nation ratlos.
«Der Schmerz hält mich noch gefangen», sagte der Bundestrainer nach der Landung auf dem Frankfurter Flughafen. Eine klare Aussage zu seiner Zukunft vermied der 58-Jährige erneut. «Ich muss mich selber hinterfragen. Es braucht Zeit, ein paar Gespräche, und dann werden wir eine klare Antwort geben», sagte Löw. Ein einfaches Weiter-so kann und darf es aber auch aus seiner Sicht nicht geben. «Es braucht tiefgreifende Maßnahmen, es braucht klare Veränderungen. Das müssen wir jetzt besprechen, wie wir das tun», sagte Löw.
Auf den Zeitgewinn hatten sich an Löws Sitzplatz in Reihe 2 der Sondermaschine aus Moskau eine Viererrunde mit DFB-Präsident Reinhard Grindel, Manager Oliver Bierhoff, Kapitän Manuel Neuer und dem Bundestrainer bei einem Gespräch verständigt. Die Verbandsführung scheint Löw den Neuaufbau einer Mannschaft noch zuzutrauen.
«Keine Schnellschusshandlungen», empfahl Bierhoff, der eine «knallharte Analyse» ankündigte: «Die Situation ist bei ihm wie nach jedem Turnier, das muss man erstmal sacken lassen.» Bierhoff glaubt aber auch: «Die Energie kommt schnell wieder. Dann muss man die Ärmel hochkrempeln und die Mannschaft wieder auf Kurs bringen.»
Man sei an Bord übereingekommen, dass die Sportliche Leitung um Bierhoff und Löw der Verbandsspitze in der kommenden Woche eine erste Turnieranalyse vorlegen werde, sagte Grindel: «Und dann rechne ich damit, dass der Bundestrainer sich zu seiner Zukunft äußern wird.» Der Verbandschef forderte dazu auf, «kühlen Kopf zu bewahren».
Kapitän Neuer hielt sich bei der Frage zu Löws Zukunft zurück: «Das steht uns Spielern nicht zu, darüber zu urteilen.» Der 32 Jahre alte Torwart erklärte die Spieler zu den Hauptschuldigen: «Das Wort Wut spielt eine Rolle. Wir haben vieles vergeigt. Wir wissen, dass wir die Protagonisten sind, die es nicht auf den Platz gebracht haben.»
Weg, ganz schnell weg, hieß es für Neuers Teamkollegen nach der Landung in Deutschland. Eine Kolonne schwarzer Limousinen stand im VIP-Bereich bereit, um die gestürzten Weltmeister zu ihren weiteren Zielen zu fahren. Schon am Morgen hatte der riesige DFB-Tross fast fluchtartig nach dem größten anzunehmenden WM-Unfall das ungeliebte Stammquartier in Watutinki im Teambus verlassen, auf dem in großen, weißen Lettern das Motto prangte: «Zusammen. Geschichte schreiben.»
Zusammen lief bei dieser WM nichts. Geschichtsschreibung sollte die erste erfolgreiche deutsche Titelverteidigung sein. Das Projekt endete mit dem ersten Vorrunden-Aus, für das der Bundestrainer am Tag nach dem 0:2 gegen Südkorea nochmals «die Hauptverantwortung» übernahm. «Die Betroffenheit und der Schock sitzen immer noch tief», erklärte Bierhoff. «Veränderungen» müssten die Konsequenz sein.
Wenn Löw bleibt, wird es einen radikalen Schnitt bei den Spielern geben. «Wir haben jetzt 14 Jahre den Weg nach oben gemacht», sagte er. In nur zehn Tagen vom Fehlstart gegen Mexiko bis zum blamablen K.o. gegen Südkorea stürzte dieses Werk ein. Löw erinnerte an das Vorrunden-Aus bei der EM 2004. Auch damals seien «wichtige Maßnahmen» ergriffen worden. Rudi Völler machte den Weg frei. Jürgen Klinsmann als Reformer, Bierhoff als Manager und er selbst als Co-Trainer übernahmen die Nationalelf. Geht’s diesmal ohne Personalwechsel?
Es ist die zentrale Frage, ob der Weltmeistercoach von 2014 noch der Richtige sein kann, um nach dem Totalschaden des deutschen Fußballs in Russland den Neuaufbau mit den hungrigen Confed-Cup-Siegern Richtung Europameisterschaft 2020 anzugehen. Nach zwölf Jahren Löw sind neue Impulse nötig. Ob der Heldensturz der goldenen Generation ausreicht, ist zumindest diskussionswürdig.
Der DFB hätte im Falle eines Rücktritts von Löw keinen sofortigen Plan B. Große Lösungen wie Jürgen Klopp (FC Liverpool) oder Thomas Tuchel (Paris Saint-Germain) wären nicht frei. Eine Novizen-Lösung à la Klinsmann 2004 etwa mit Miroslav Klose wäre spektakulär, aber auch sehr riskant. Die Gesamtstrategie muss ebenfalls hinterfragt werden.
Die Ausrichtung des Nationalteams, PR-Strategien («Best never rest»), die Quartierwahl, das öffentliche Auftreten der Mannschaft und der fragwürdige Umgang mit der Özil-Gündogan-Erdogan-Affäre verlangen nach einer kritischen Aufarbeitung. Chefstratege Bierhoff äußerte sich bereits wieder kämpferich: «Ein paar Tage durchschnaufen, dann kommt auch schnell wieder die Kraft anzugreifen.»
Grindel hatte den Vertrag mit Löw erst vor dem Turnier bis zur nächsten WM 2022 verlängert, weil die Verbandsspitze in ihm auch nach dem Russland-Debakel weiterhin den «geeignetsten Kandidaten» für den Umbruch von einer satt gewordenen Weltmeister-Generation zur «tollen jungen Truppe» des erfolgreichen Confed Cups 2017 sieht. «Es war ja in der Vergangenheit immer so, dass Turniere Zeitpunkte waren für Veränderungen», bemerkte Mittelfeldspieler Toni Kroos allgemein.
Ein Vorrunden-Aus bei einer WM gab es in der DFB-Geschichte noch nicht. Aber dreimal bei Europameisterschaften; Jupp Derwall (1984), Erich Ribbeck (2000) und auch Rudi Völler (2004) saßen danach nicht mehr auf der Trainerbank. Löws Fallhöhe war besonders hoch. Aber auch seine Verdienste um die Nationalmannschaft sind eben enorm.
«Erbärmlich» nannte Kapitän Neuer das gesamte Turnier-Auftreten des Teams, das keine Einheit war. «Wir sind in erster Linie wütend auf uns selbst. In keinem der drei Spiele hat man gesehen, dass da wirklich eine deutsche Mannschaft auf dem Platz war, vor der man Angst hat.» Selbst bei einem Weiterkommen wäre der Titelgewinn Utopie geblieben, urteilte Neuer knallhart: «Ich glaube, jeder hätte gerne gegen uns gespielt.» Angstgegner Deutschland? Nicht bei dieser WM!
Vieles ist schief gelaufen in Russland, aber auch schon vorher. Der Mannschaft habe Leichtigkeit, Qualität und Dynamik gefehlt, sagte Löw. Aber das schon länger. Nach der makellosen WM-Qualifikation mit zehn Siegen in zehn Spielen begann der Abwärtstrend: Von neun Partien bis zum Südkorea-Tiefpunkt wurden nur noch zwei gewonnen.
Löw ignorierte die Signale. Er fuhr personell einen Schlingerkurs, auch noch im Turnier. 19 von 20 Feldspielern setzte er ein, eine Elf fand er nicht. Er sprach von «Selbstherrlichkeit», meinte aber damit nicht in erster Linie sich: «Wir waren überzeugt, es geht schon gut, wenn das Turnier losgeht.» Ein Irrtum, der in den Untergang führte.
Eine Rücktrittswelle auf Spielerseite ist nicht zu erwarten. Der 32 Jahre alte Kapitän Neuer etwa will beim Neuaufbau, der mit dem ersten Spiel der neuen Nationenliga am 6. September in München gegen Frankreich beginnt, dabei sein. «Ich habe jetzt nicht vor, aufzuhören», sagte Neuer. Die Trainerfrage ist aber die erste, die beantwortet werden muss. «Es war das allererste Mal, dass in Löws Trainerschaft etwas nicht so funktioniert hat», sagte Mats Hummels.
(dpa)