Saint Girons – Die 14. Etappe der 104. Tour de France startet am Samstag in Blagnac, keine 200 Kilometer vom Zwergstaat Andorra entfernt. Auf den Tag genau vor 20 Jahren begann dort das deutsche Sommermärchen des Radsports.
Jan Ullrich verließ den Tunnel kurz vor dem Ziel der 10. Etappe in Andorra-Arcalis allein an der Spitze fahrend im schwarz-rot-goldenen Meistertrikot. Keine Stunde später hatte er den Franzosen Cedric Vasseur von der Tour-Spitze verdrängt und streifte das Gelbe Trikot über.
Vor der Attacke des 23-Jährigen hatte er sich brav das Okay seines Kapitäns und Titelverteidigers Bjarne Riis und das des belgischen Team-Managers Walter Godefroot («Fahr!») eingeholt. Bis Paris zog Ullrich das Maillot Jaune nicht mehr aus. «Voilà le Patron», titelte das Tour-Organ «L’Équipe», andere schwärmten vom «Boris Becker des Radsports».
Der Wahnsinn begann. Der sympathische Junge mit dem rotblonden Haar und den Sommersprossen wurde zu Everybody’s Darling, zum angehimmelten Popstar – und Deutschland zur Radsport-Nation. Der unglaubliche Hype, der Ullrich viele Millionen einbrachte und seinem Rennstall Telekom den Weg an die Börse ebnete, dauerte neun Jahre. Die Fans nahmen sogar Anteil daran, was die Waage anzeigte, wenn Ullrich darauf stand – im Winter meistens etwas mehr. Die ARD reihte sich ein in die Reihe der Team-Sponsoren.
Zum Tourstart 2006 in Straßburg kam die abrupte Wende. Der erste und einzige deutsche Toursieger, Weltmeister, Olympiasieger und «Sportler des Jahres» wurde mit Doping in Verbindung gebracht. Der tiefe Fall begann. Der Telekom-Nachfolger T-Mobile handelte schnell, die geschmeidige Kommunikations-Abteilung drückte durch: Ullrich, der illegal mit dem Doping-Arzt Eufemiano Fuentes zusammengearbeitet hatte, muss gehen – sofort.
Bevor die Tour begann, sprangen Ullrich, sein enger Berater Rudy Pevenage und Teamkollege Oscar Sevilla in ihre geparkten Autos. Das Mannschafts-Quartier in Blaesheim wurde fluchtartig verlassen. Die Frankreich-Rundfahrt begann mit einem T-Mobile-Rumpfteam. Nach langen Recherchen der Staatsanwaltschaft Bonn und einem intensiven Rechtsstreit wurde dem gebürtigen Rostocker bei Fuentes lagernde Blutbeutel zugeordnet.
Erst 2012 sperrte der Internationale Sportgerichtshof CAS den längst auch in der Öffentlichkeit in Ungnade gefallenen Ex-Star, der sich jahrelang mit dem Intensiv-Doper Lance Armstrong packende Duelle auf Augenhöhe geliefert hatte. Zu einem umfassenden Geständnis wie es viele seiner Kollegen abgelegt hatten – als erste Rolf Aldag und Erik Zabel in einer im TV live übertragenden «Beicht-Show» – konnte sich der 2007 zurückgetretene Ullrich bis heute nicht durchringen.
Ein Großteil der Medien verzieh ihm nie, für die Fans ist er weiter der volksnahe «Ulle» geblieben. Zuletzt huldigten sie dem Tour-Touristen auf der zweiten diesjährigen Etappe, die von Düsseldorf nach Lüttich führte. In Korschenbroich wurde der inzwischen 43-Jährige, der zum ersten Grand Départ in Deutschland nach 30 Jahren nicht offiziell eingeladen worden war, umjubelt. Mit seiner Familie lebt Ullrich jetzt auf Mallorca und will mit dem Profiradsport außer als TV-Zuschauer «nichts mehr zu tun haben».
(dpa)