Nischni Nowgorod – Beim Jubeln ist Oscar Tabarez immer der Letzte. Dabei würde Uruguays Trainer-Oldie seinen Emotionen bei der bisher so erfolgreichen WM nur zu gerne freien Lauf lassen.
Doch eine chronische Nervenkrankheit zwingt den 71 Jahre alten Maestro, der sich bei jedem öffentlichen Auftritt auf eine Krücke stützen muss, zur Zurückhaltung. Über seine gesundheitlichen Probleme – Tabarez leidet am Guillain-Barré-Syndrom, das eine Muskelschwäche auslöst – redet der Coach nicht. Genauso wenig wie über seine Verdienste. Das tun dafür andere. «Er ist der Vater des Erfolgs und für die gesamte Entwicklung der Nationalmannschaft verantwortlich», sagt Stürmerstar Edinson Cavani über Tabarez.
Der ist nicht nur der älteste Fußball-Lehrer im Turnier, sondern auch der erfahrenste. In seiner insgesamt 14-jährigen Amtszeit hat er die Celeste bisher in 184 Länderspielen betreut – Rekord. Und das 185. an diesem Freitag im WM-Viertelfinale gegen Vize-Europameister Frankreich soll nicht das letzte in Russland sein. «Wir sind hier, um sieben Spiele zu spielen», sagt Tabarez. Soll heißen: Der Champion von 1930 und 1950 will ins Finale.
Nach vier Siegen in vier Spielen mit nur einem Gegentor erscheint dies keine Utopie mehr. Tabarez hat eine Mannschaft geformt, die durch enorme Laufbereitschaft, unbändigen Willen und Teamgeist besticht. «Wir sind ein kleines Land. Wir haben demografische Grenzen und können nie glauben, dass wir die Stärksten oder die Favoriten sind», lautet das Credo von Tabarez.
Dem ordnen sich auch die Stars unter. «Keiner von uns darf sich wichtiger nehmen als das Team, keiner sich besser finden als die Mannschaftskollegen. Die Reihen schließen, alle auf Augenhöhe», erklärt Uruguays Rekord-Torschütze Luis Suárez das Erfolgsrezept.
Schon von 1988 bis 1990 wirkte der stets elegant gekleidete Tabarez erstmals als Auswahltrainer Uruguays. Nach dem Aus im WM-Achtelfinale gegen Gastgeber Italien war Schluss. Es folgten Engagements bei sechs Vereinen in Südamerika und Europa, darunter von 1996 bis 1997 beim AC Mailand. Doch 2001 schien seine Laufbahn zu enden.
Fast fünf Jahre blieb er ohne Trainerjob, ehe ihn im Februar 2006 noch einmal der Ruf des uruguayischen Verbandes erreichte. Die Südamerikaner hatten gerade die WM in Deutschland verpasst und damit den Tiefpunkt erreicht. Tabarez übernahm und erneuerte zunächst das Nachwuchsprogramm. Aus dem gingen die heutigen Stars wie Godín, Suárez und Cavani, dessen Einsatz gegen Frankreich wegen einer Wadenverletzung fraglich ist, hervor.
Schnell stellten sich Erfolge ein: 2010 der Einzug ins WM-Halbfinale, 2011 der Gewinn der Copa América. Im selben Jahr wurde er zum Welt-Trainer gewählt. Aber Tabarez, der im ersten Beruf Geschichtslehrer war, kann auch anders. Seine Verteidigung der Beißattacke von Suárez bei der WM 2014, nach der er eine Intrige gegen Uruguay witterte, war fragwürdig. Ein Jahr danach wurde er nach einem Handgemenge im Skandal-Viertelfinale der Copa América gegen Chile auf die Tribüne verbannt und später für drei Spiele gesperrt.
Doch im Vordergrund steht immer die Liebe zum Fußball, der seit nunmehr über 50 Jahren sein Leben bestimmt und mittlerweile mehr als ein Spiel für ihn ist. «Die Nationalmannschaft gibt ihm Vitalität», sagt Abwehrchef Godín über Tabarez. «Ich bin davon überzeugt: Sie schenkt ihm das Leben.»
(dpa)