München – Die Fortsetzung der Fußballsaison in Zeiten des Coronavirus stellt auch mental eine außergewöhnliche Herausforderung für Spieler und Trainer dar.
«Das sind alles Profis, sie werden Meisterschaftsspiele in dieser Form wohl nicht lieben, aber sich vorübergehend daran gewöhnen», sagt Hans-Dieter Hermann (59), der Sportpsychologe der deutschen Nationalmannschaft, vor dem Neustart der Bundesliga im Interview der Deutschen Presse-Agentur.
Geisterspiele sind kein Neuland im Profifußball. Aber Geisterspiele unter dem Einfluss eines hoch ansteckenden Virus schon. Welche Rolle spielt eine bewusste mentale/psychologische Vorbereitung auf diese spezielle Situation für Spieler und Trainer?
Hans-Dieter Hermann: Auch wenn es sich in den Medien eingebürgert hat: Ich mag den Begriff „Geisterspiele“ nicht. Er impliziert direkt etwas Negatives. Ich würde sie „pure TV-Fußballspiele“ oder „pure TV-Bundesliga“ nennen, denn das sind sie ja letztlich. Die Situation eines leeren Stadions ist für alle ungewohnt, aber nicht völlig unbekannt. Testspiele, auch gegen sportlich gleichwertige Mannschaften, finden in Trainingslagern auch manchmal ohne Zuschauer statt. Zudem: Das sind alles Profis, sie werden Meisterschaftsspiele in dieser Form wohl nicht lieben, aber sich vorübergehend daran gewöhnen. Und wer sich mental mit dieser Situation auseinandergesetzt hat und schwierige Situationen vorbesprochen, vorbereitet und geübt hat, wird klar im Vorteil sein.
Welche spezielle Drucksituation lastet auf den Spielern, weil es für die Vereine, die sie sehr gut bezahlen, um die wirtschaftliche Zukunft, ja in Einzelfällen sogar ums finanzielle Überleben geht?
Hermann: Von dieser Warte aus betrachtet sehe ich aktuell noch keine spezielle zusätzliche Belastung, vielleicht sogar eher zusätzliche Motivation. Schließlich ermöglicht dieser Neustart, die wirtschaftliche Situation zu stabilisieren. Das ist für die Vereine eine große Chance, und die Fußballwelt schaut hier auf Deutschland.
Wie wird sich das fehlende Publikum auf die Spieler auswirken? Nach dem Geisterspiel Gladbach gegen Köln im März sprachen einige Akteure von dem Charakter wie bei einem Freundschaftsspiel.
Hermann: Klar, weil sie so etwas bislang nur von saisonvorbereitenden Freundschaftsspielen kennen. Die Spieler werden unterschiedlich reagieren, ich würde einmal grob drei Gruppen nennen. Es gibt die, die blühen erst auf, wenn sie Publikum haben, für die wird es schwerer. Es wird etliche geben, für die es auf dem Platz ungewohnt ist, aber die anhand der anwesenden Medien, der Vorberichterstattung und der Kameras beziehungsweise Mikrofone schnell in den vollen Wettkampfmodus kommen. Und es gibt die, die ohnehin auch jeden kleinen zuschauerfreien Trainingskick gewinnen wollen und unabhängig von den Bedingungen immer Vollgas geben. Vielleicht gibt es sogar noch eine vierte Kategorie, wenn es auch nur wenige betreffen mag: Spieler, die weniger Druck empfinden, weil kaum Publikum anwesend ist und dadurch vielleicht sogar befreiter spielen.
Sie sagen es. Der Augsburger Torwart Tomas Koubek spekulierte: «Wenn die Fans nicht dabei sind, könnte eine spezielle Form des Drucks, ein Stressfaktor wegfallen.» Wie bewerten Sie die Aussage?
Hermann: Ich weiß nicht, ob er es auf sich bezogen hat oder auf Kollegen, von denen er annimmt, dass sie erleichtert sein könnten. Fans können extrem reagieren und auch belastend sein, vor allem, wenn sich die eigenen Fans gegen einen richten. Dann ist die Aussage fachlich gut nachvollziehbar. Aber für jeden Spieler, der die Zuschauer prinzipiell als Stressor erlebt, tut mir das sehr leid, denn dann hat er eigentlich immer Stress. Auch wenn Stress kurzfristig leistungssteigernd wirken kann: wer ihn dauerhaft erlebt, ist gefährdet, psychisch in eine Schieflage zu geraten.
Welchen Einfluss könnten die fehlenden Zuschauer auf die Spielweise haben? Erwarten Sie weniger Emotionen auf dem Spielfeld?
Hermann: Ich habe auch bei zuschauerfreien Freundschaftsspielen heftige Emotionen – positive wie negative – erlebt. Aber trotzdem, ja, insgesamt erwarte ich etwas weniger Emotionen aus zwei Gründen: Erstens ist der ohnehin emotionalisierende Grundgeräuschpegel viel geringer. Und zweitens gibt es keine sekundären Emotionen durch die Zuschauer nach einer Aktion, wie zum Beispiel einer Unsportlichkeit, die wiederum die Spieler weiter zusätzlich pushen.
Könnten oder sollten die Vereine die Geisterspiel-Atmosphäre vorab in internen Trainingsspielen in ihren Stadien simulieren?
Hermann: Ja, und das wäre auch klug. Aber wie schon erwähnt, würde ich Trainer und Verantwortlichen vorschlagen, das Wort „Geisterspiele“ nicht zu verwenden. Denn das sind Punktspiele, und es schauen trotzdem Millionen zu. Das müssen die Spieler verinnerlichen. Aus meiner Sicht bekommt in diesem Zusammenhang auch die Bank nochmals eine ganz neue Rolle. Sie sind die Zuschauer, die Resonanz geben können. Wie sie das machen wollen, müssen sie mit ihrem Trainer klären.
Fällt der Heimvorteil ohne Zuschauer komplett weg?
Hermann: Nein, zu einem wichtigen Teil nicht, denn es ist so viel Gewohntes trotzdem da. Das geht schon mit der eigenen Kabine los, die signalisiert: Hier sind wir zu Hause beziehungsweise hier sind wir eben nicht zu Hause.
Nach zwei Monaten Wettkampfpause müssen die Spieler in einer sehr kurzen Phase des Mannschaftstrainings die mentale Spannung wieder aufbauen. Zudem geht es in die sportlich finale Saisonetappe mit Entscheidungen im Titelkampf, im Kampf um internationale Startplätze und gegen den Abstieg. Wie bewerten Sie diese Stresssituationen?
Hermann: Ich halte die von Ihnen genannten Situationen nur bedingt für stressrelevant. Denn nur die relativ unbekannte Situation und das Nichtwissen über die aktuelle Leistungsfähigkeit deutet auf zusätzlichen Stress hin. Alles andere kennen die Spieler von den Saisonendspurten vergangener Runden. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass diese letzten neun Spieltage auch einen besonderen Reiz haben, sowohl für die Spieler als auch für die vielen Millionen, für die die Bundesliga auch eine Art von Taktgeber ist und sozusagen Normalität signalisiert. Die verbliebenen Spieltage werden Geschichte schreiben. Sie sind wie eine eigene verkürzte Saison mit bislang erspielten Startplätzen.
Welche Maßnahmen würden Sie bei der Nationalmannschaft konkret ergreifen beziehungsweise Bundestrainer Joachim Löw empfehlen, wenn jetzt ein Länderspiel ohne Zuschauer stattfinden würde?
Hermann: Joachim Löw und Marcus Sorg würden sicherlich die Situation mit den Spielern genau besprechen, diskutieren und auch ihre Erfahrungen aus den Vereinen berücksichtigen. Und ich gehe davon aus, sie würden die Situationen auch vorab simulieren, soweit es möglich ist.
Profis haben Familien. Welchen Umgang würden Sie bei Spielern empfehlen, die wegen des Coronavirus Angst oder Bedenken vor einem Einsatz haben?
Hermann: Für diese Spieler ist die Situation schwieriger. Es gilt für sie umso mehr, sich umfassend zu informieren und dann zu entscheiden. Den Mannschaftsärzten kommt hier auch psychologisch eine wichtige Rolle zu. DFB und DFL haben mit ihrer Taskforce ein detailliertes, meines Erachtens sehr gutes Konzept entwickelt, das maximalen Schutz bietet und ausdrücklich die Freiwilligkeit der Teilnahme vorsieht. Aber sich dagegen zu entscheiden ist nicht so einfach, denn es gibt ja verständlicherweise auch unausgesprochene Erwartungen von Seiten des Vereins beziehungsweise von den Kollegen und Fans.
Können die regelmäßigen Corona-Tests Ängste abbauen? Oder verstärken sie womöglich sogar Ängste bei besorgten Spielern?
Hermann: Getestet zu werden bedeutet immer, dass man sich mit einer möglichen Gefahr auch im Kopf auseinandersetzt. Letztlich schaffen sie aber Sicherheit und bauen damit Ängste ab.
Sollte ein Trainer solche Spieler vielleicht nicht aufstellen, zumindest beim ersten Spiel?
Hermann: Das Konzept sieht ja die Freiwilligkeit vor. Wenn Spieler sagen, dass sie sich große Sorgen machen und nicht spielen wollen, muss das akzeptiert werden. Aber nach allem was ich an Informationen habe, freut sich die ganz große Mehrheit der Spieler und Trainer einfach sehr darauf, dass es wieder losgeht, wenn auch unter ungewohnten Bedingungen.
Der FC Bayern hatte vor der Unterbrechung der Spielzeit einen super Lauf in der Bundesliga, Werder Bremen als Gegenstück einen Negativlauf. Spielt das psychologisch eine Rolle beim Neustart?
Hermann: Speziell für die Mannschaften aus dem unteren Bereich bietet diese Pause die große Chance – bildlich gesprochen – auf Reset zu drücken und für diese neun Spiele einen speziellen Teamspirit zu erarbeiten. Das wäre bei einer fortlaufenden Saison, die schon etliche Rückschläge beinhaltete, gar nicht so leicht. Ich weiß von mehreren Vereinen, die sich in diesen Wochen im sportpsychologischen Bereich personell gezielt verstärkt haben.
Erwarten Sie verrückte Ergebnisse? Oder werden Geisterspiele im Ausgang sogar berechenbarer, weil Union Berlin oder Paderborn gegen die Großen wie Bayern oder Dortmund jetzt chancenlos sein müssten?
Hermann: Es wird spannend bleiben. Die Bundesliga zaubert auch zu normalen Zeiten immer wieder verblüffende Ergebnisse hervor, vor allem zu Beginn einer Saison. Und in gewisser Weise sind die kommenden Spiele auch wieder ein Anfang.
Aus welchem Blickwinkel werden Sie die Spiele verfolgen? Fan oder Psychologe? Und sind sie wissenschaftlich spannend?
Hermann: Aus den genannten Blickwinkeln und in dieser Reihenfolge. 1. als Fußballfan. 2. als praktischer Sportpsychologe, 3. als Wissenschaftler. Spannend sind die Spiele aus jeder dieser Positionen.
ZUR PERSON: Hans-Dieter Hermann ist am 14. Mai 1960 in Ludwigsburg geboren. In Antwerpen und Würzburg studierte er Psychologie und promovierte an der Uni Heidelberg. Seit 2004 ist er Sportpsychologe der deutschen Nationalmannschaft. Von 2006 bis 2010 war er auch Sportpsychologe der Fußball-Profis von 1899 Hoffenheim. Der begeisterte Skifahrer hat mit Olympioniken aus vielen Sportarten zusammengearbeitet. Der Vater zweier Kinder ist Professor an der Deutschen Hochschule für Prävention und Gesundheitsmanagement in Saarbrücken sowie Honorarprofessor am Institut für Sportwissenschaft der Universität Tübingen.
(dpa)