Rouen – In seinen über 20 Jahren als Mannschaftsarzt hat Kurt Steuer einen Handball-Trainer wie Dagur Sigurdsson noch nicht erlebt. Wenn Steuer über den außergewöhnlichen Erfolg der DHB-Auswahl in der Zeit unter dem Isländer spricht, redet er vor allem über den Isländer selbst.
«Weil Dagur extrem gut darauf achtet, dass die Belastung der Spieler im Rahmen des Möglichen nicht zu hoch ist», sagt der Chef-Mediziner der deutschen Handballer. In seinen rund zweieinhalb Jahren als Nationalcoach habe Sigurdsson eine relativ breit aufgestellte, ganz junge Truppe zusammenbekommen.
Das Prinzip des Trainers ist auch nach wenigen Spielen bei der WM in Frankreich zu erkennen. Während er im Auftaktmatch gegen die starken Ungarn auf Spitzenspieler wie Kapitän Uwe Gensheimer oder Patrick Groetzki nicht verzichten konnte, setzte er gegen die klar unterlegenen Chilenen auf die im ersten Spiel kaum belasteten Akteure. «Trotz der noch engeren Spieltaktung als in der Bundesliga ist die Belastung der Spieler bei der WM vergleichsweise geringer – wegen der Rotation-Systematik von Dagur», sagt Steuer. Das Prinzip setzte sich auch gegen Saudi-Arabien fort.
Wie hoch aber gerade die Beanspruchung abseits von großen Turnieren im Liga-Alltag ist, zeigen die Beispiele der Europameister Hendrik Pekeler oder Martin Strobel. Beide haben in der Bundesliga teilweise bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag noch gespielt, beide haben für die WM aus Belastungsgründen abgesagt. Bei der erfolgreichen EM vor einem Jahr hatten mit Gensheimer, Groetzki, Patrick Wiencek oder Paul Drux zahlreiche Spieler verletzt gefehlt. Während des Turniers verletzten sich mit Steffen Weinhold und Christian Dissinger weitere etablierte Kräfte.
«Besonders belastet sind natürlich die Spitzenspieler, die parallel zur Liga in der Champions League spielen», sagt Steuer. «Das ist ein Gesamtpaket, das irgendwann Konsequenzen hat.» Dass gerade die Königsklasse des Handballs mit etlichen Teams und Hin- und Rückspielen in der Gruppenphase aufgebläht ist, führt Steuer auf wirtschaftliche Interessen zurück. Wenn er Funktionär bei einem Verein oder dem europäischen Verband EHF wäre, würde er zwar genau so handeln. «Ich bin aber für die Gesundheit der Spieler da. Und da bin ich sicher nicht der einzige, der darauf hinweist, dass die Spieler eben auch Pausen brauchen», sagt er.
Mit Blick auf die WM hat der Mediziner aber eine andere Art der Belastung bei seinen Spielern festgestellt. Dadurch, dass Sigurdsson und sein Trainerteam sie alle paar Tage auf einen neuen Gegner vorbereiten würden, seien die Spieler in Frankreich vor allem mental belastet. «Weil sie sich für jedes Spiel auf einen neuen Gegner, neue Gegenspieler neue Spielzüge einstellen müssen», sagt Steuer. «Und wie in der Schule müssen all diese Vokabeln nach der Partie wieder gelöscht werden.»
(dpa)