Berlin – Schnelle Beine, flotte Autos, flinke Zunge: Gina Lückenkemper hat das gewisse Extra, das aus einer Spitzensportlerin einen Star macht.
Und sie hat Lust dazu, mehr als die schnellste Frau Deutschlands zu sein. Deshalb ist die erst 21 Jahre alte Sprinterin auch das «Gesicht der Leichtathletik-EM» in Berlin und dem «Spiegel» eine lange Story wert. «Ich bin extrovertiert, aber auch ein nachdenklicher Mensch», sagte die Mitfavoritin auf eine EM-Medaille vor ihrem 100-Meter-Auftritt am Dienstag (19.05 Uhr) im Olympiastadion.
Für den Ex-Verbandspräsidenten Clemens Prokop ist sie «ein Geschenk des Himmels für die deutsche Leichtathletik» – mit einer fast sechsstelligen Fangemeinde in den sozialen Medien und starken Nerven. Während andere sich verkriechen, um sich auf ihren Wettkampf zu fokussieren, gibt sie in den 48 Stunden vor dem ersten Start noch Interviews oder posiert in den Armen des EM-Maskottchens Berlino.
Dabei will sie in Berlin nichts anderes als den großen Erfolg. «Ich möchte von der EM mit zwei Medaillen nach Hause fahren», kündigte Gina Lückenkemper selbstbewusst an. Vor zwei Jahren in Amsterdam war ihr dies mit zweimal Bronze über 200 und 4×100-Meter gelungen. «Ich vertraue auf den Rückenwind in Berlin. Wenn ich 50 000 Zuschauer hinter mir weiß, weiß ich, dass ich zu einigem fähig bin», meinte die Studentin für Wirtschaftspsychologie in Dortmund.
Versagensängste kennt sie nicht. «Wenn es scheiße läuft, läuft es so, das kann immer mal passieren. Dafür ist es Sport. That’s life», sagte die Liebhaberin von schnellen Autos und kecken Sprüchen. «Ich bin zuversichtlich, dass ich schnell rennen kann, sonst wäre ich nicht hier.» Auch wieder unter elf Sekunden wie bei der WM 2017 in London, wo sie ihre Bestzeit von 10,95 Sekunden aufstellte. Vor ihr war Katrin Krabbe als letzte Deutsche bei der WM 1991 in Tokio unter elf Sekunden gerannt. «Wenn die Bedingungen so bleiben, wird es darauf hinauslaufen, dass man unter elf Sekunden für eine Medaille laufen muss», meinte Lückenkemper angesichts der Hitze in Berlin.
In dieser Saison reichte es bisher nur zu 11,07 Sekunden, der aktuell sechstschnellsten Zeit in Europa. Die Britin Dina Asher-Smith (10,92) und Mujinga Kambundji aus der Schweiz (10,95) sind mit starken Zeiten vorgeprescht. Lückenkemper lässt sich dadurch nicht einschüchtern, hofft auf das «Gefühl vom Fliegen», das sie bei einem perfekten Rennen hat und bekräftigt: «Es ist alles möglich. Der Druck ist groß, aber es kommt darauf an, wie man damit umgeht. Ich habe keinen.»
Trotz der demonstrativen Lockerheit, arbeitet sie hart für den Erfolg. Mit ihrem Neuro-Athletiktrainer Lars Lienhard ist die deutsche Meisterin dabei neue Wege gegangen, um ihren Start zu verbessern. «Ich arbeite an meinen Schwächen, weil ich keine Schwächen mag», sagte Lückenkemper. «Zuletzt war nur noch die schlechte Reaktionszeit das große Übel.»
Sie habe im Startblock über die unsinnigsten Sachen nachgedacht und zum Beispiel den Schuss gedanklich vorweggenommen und dadurch an Reaktionszeit eingebüßt: «Richtig ist: Schuss und Bewegung. Und nicht Schuss, aha, und los.» Lienhard habe geholfen, den Kopf mit neuronalen Mitteln frei zu machen. «Es sieht aus nach Firlefanz, aber es hat eine so krasse Wirkung», sagte Lückenkemper, die sich auch die Zunge mit Batterie-Strom schockt, um aufmerksamer zu sein.
In Berlin hofft Gina Lückenkemper mit einer besseren Startzeit auf einen Medaillenplatz zu laufen – und in Zukunft so oft wie möglich unter elf Sekunden. «Ich muss, um ernsthaft in der Weltspitze konkurrenzfähig zu sein, auf Dauer unter zehn Sekunden laufe. Da habe ich noch ein paar Jahre Zeit für», meinte sie. Keine rechte Lust hat sie, auch mal die 400 Meter zu probieren: «Viel zu lang. Wenn ich sehe wie die ins Ziel kommen und sterben. Das ist kein Ziel.»
(dpa)