Stuttgart – Dieser Psycho-Effekt entscheidet vielleicht. Aus dem emotionalen Comeback-Sieg gegen den Hamburger SV kann der VfB Stuttgart jedenfalls viel mehr als nur die drei Punkte mit in die nächsten vier Wochen nehmen, die über Tränen der Freude oder der Enttäuschung bestimmen.
Mit dem Kick des Nachspielzeit-Treffers von Gonzalo Castro will sich der zuletzt enttäuschende VfB von seiner Verunsicherung im Aufstiegskampf der 2. Fußball-Bundesliga befreien. Der HSV muss dagegen einen mentalen Tiefschlag wegstecken, der nachwirken könnte und Erinnerungen an die verpasste Bundesliga-Rückkehr vor einem Jahr wach werden lässt.
Der «Lucky Punch» und das 3:2 nach einem 0:2 im Topspiel sei so wichtig «tabellenmäßig und für die Psychologie», gestand VfB-Trainer Pellegrino Matarazzo. Im Gegensatz dazu meinte HSV-Coach Dieter Hecking: «Das kann man nicht einfach so herausschütteln.»
Das verrückte Fußballspiel vom Donnerstagabend könnte so der Wegbereiter dafür sein, dass der VfB das Duell mit dem HSV um den direkten Aufstiegsrang hinter Arminia Bielefeld für sich entscheidet. Eine Prognose aber ist ungewiss. Zu eng ist der Tabellenstand, zu wackelig waren die VfB-Auftritte, Zweifel bleiben angebracht. Schon am Sonntag (13.30 Uhr/Sky) in Dresden könnte die Stimmung wieder kippen, sollten die Schwaben das Gesicht der ersten Halbzeit zeigen.
Die Stuttgarter waren kurz davor, nach den Toren von Joel Pohjanpalo (16.) und Aaron Hunt (45.+2/ Handelfmeter) mit der dritten Niederlage in Serie noch tiefer in die Krise zu rutschen. Zur Pause schien es schwer zu verstehen, warum die VfB-Chefs mit der vorzeitigen Vertragsverlängerung für Matarazzo ins Risiko gegangen waren. Kurz vor Mitternacht verließen VfB-Sportdirektor Sven Mislintat und Präsident Claus Vogt dann doch noch lächelnd die Arena.
«Es war enorm wichtig für den Kopf für die nächsten Spiele», sagte Castro. Die lauter als übliche Pausen-Ansprache zeigte offenbar Wirkung und führte zur phänomenalen Wende mit den Toren von Wataru Endo (47.), Nicolas Gonzalez (60./ Foulelfmeter) und Castro (90.+2). Es wurde sich «gefetzt», erzählte Pascal Stenzel: «Dann waren alle wach.» Sollte das im Topspiel nicht selbstverständlich sein? Es wirft Fragen auf, warum der VfB nicht über 90 Minuten dem Druck mit mehr Leidenschhaft begegnete und eine aufstiegsreifere Leistung zeigte.
Der frühere Nationalspieler Castro steht auch stellvertretend dafür, dass viele VfB-Profis in dieser Saison nicht ihre Topform abrufen. Als der eingewechselte Routinier dann nach seinem Treffer sein Trikot vor Freude in die Luft schmiss und die Stuttgarter ausrasteten, entlud sich der Frust. Den Empfehlungen des Hygienekonzepts zu verhaltenem Jubel entsprach das Verhalten der VfB-Profis im Moment des Glücks nicht. «Zum Schluss ist es ein Gefühl, das einem ein Leben lang begleiten wird», fand Matarazzo. Von der Straße hallte ein Hupkonzert ins Stadion.
Die Hamburger dagegen waren geschockt, hockten wie Timo Letschert tief enttäuscht an der Bande oder wie Adrian Fein in sich versunken auf dem Rasen. Er müsse jetzt seiner «Mannschaft den Halt geben, den sie braucht», meinte Hecking: «Wir müssen uns wieder aufrappeln.»
Denn es droht ein bitteres Déjà-vu. In der vergangenen Saison waren die Hanseaten als Wintermeister in die zweite Halbserie gestartet – und dann auf Platz vier abgestürzt. Der sicher geglaubte Aufstieg war dahin. Am Sonntag gegen Wiesbaden lastet der Druck auf den Hamburgern, nicht auch noch vom Relegationsplatz zu rutschen.
(dpa)