Le Castellet – Den grimmigen Bartwuchs wollte Sebastian Vettel nicht falsch verstanden wissen. Er habe einfach die Rasur am Morgen vergessen, ließ der Ferrari-Pilot kurz nach seiner Ankunft auf dem Circuit Paul Ricard wissen, als er mit Sonnenbrille und kurzen Hosen über die Strecke schlenderte.
Vettels Wut über die höchst umstrittene Aberkennung seines Kanada-Sieges scheint vorerst verglüht. Doch beim Formel-1-Ausflug nach Südfrankreich geht der brisante Streitfall in die nächste Runde.
Für Freitag um 14.15 Uhr luden die Rennkommissare einen Vertreter von Ferrari zur Anhörung. Zwischen den beiden ersten Trainingseinheiten auf dem Circuit Paul Ricard soll der Rennstall seinen Antrag auf eine Neubewertung des Vorfalls begründen, teilte der Weltverband FIA am Donnerstag mit. Ob Ferrari tatsächlich so schlagkräftige neue Beweise hat, dass die Sportrichter einer Revision zustimmen, erscheint ziemlich unwahrscheinlich.
So oder so: Die Folgen seines Fahrfehlers in Kanada, als der führende Vettel übers Gras rumpelte und dann Verfolger Hamilton nah an eine Mauer drängte, überschatten auch das Frankreich-Wochenende. Das enge Regelwerk, die häufigen Eingriffe der Stewards, oft animiert von kleinlichen Beschwerden von Fahrern und Teams – dieser Aspekt der modernen Formel 1 steht seit Vettels Zornesausbruch von Montréal in der Diskussion. «Das ist nicht der Sport, in den ich mich verliebt habe», grummelte der Hesse.
Vor dem achten Saisonlauf steckt Vettel in der Frustfalle. Die kriselnde Scuderia hat die technischen Defizite am Auto vor dem Grand Prix in Le Castellet längst nicht überwunden. «Was wir mitbringen werden, wird nicht die Lösung für unsere Probleme sein», räumte Teamchef Mattia Binotto ein.
Auch deshalb kämpft der Rennstall weiter um eine Aufhebung der Zeitstrafe von Montréal, die Vettel den ersten Saisonsieg kostete. Schließlich ist angesichts der Unterlegenheit des SF90 gegen den Mercedes und der Stärke von Hamilton ziemlich ungewiss, wann sich die nächste Chance auf einen Grand-Prix-Sieg bietet.
Alle sieben Rennen des Jahres hat Mercedes bisher gewonnen. Wenig deutet darauf hin, dass sich das am Sonntag (15.10 Uhr/RTL und Sky) ändern könnte. Wann die massiven Probleme des Ferrari in den Kurven und beim Umgang mit den Reifen gelöst sein werden, ist völlig offen.
Vettels Vorfreude kaum zuträglich wird die Erinnerung an das Vorjahr sein, als die Rennserie nach 28 Jahren erstmals wieder auf dem Kurs nahe Marseille fuhr. Kurz nach dem Start krachte Vettel ins Heck des Silberpfeils des Finnen Valtteri Bottas, erhielt auch damals eine Fünf-Sekunden-Strafe und verlor die WM-Führung an Hamilton. Der britische Titelverteidiger liegt auch diesmal wieder vorn im Klassement und hat auf Vettel schon 62 Punkte Vorsprung.
Vettels fünftes Ferrari-Jahr, das endlich in seinem ersten WM-Triumph in Rot münden sollte, scheint schon jetzt wieder verloren. So muss sich der 31-Jährige bereits nach Gedanken an einen Rücktritt fragen lassen. Doch Vettels kochende Wut von Kanada zeigte auch, dass Kampfgeist und Ehrgeiz noch immer groß sind. «Ich denke, dass unser Auto das Tempo haben kann, damit es hier ziemlich gut für uns läuft», versicherte der viermalige Champion vor der Frankreich-Rundfahrt. Noch ist Sebastian Vettel mit der Formel 1 längst nicht fertig.
(dpa)