Sotschi – Wende oder Ende? Auf einer kurzen Jogging-Runde am Morgen mit Ausblick auf das malerische WM-Stadion von Sotschi ist Joachim Löw womöglich der taktische und personelle Geistesblitz für den dringend benötigten Befreiungsschlag bei der WM gekommen.
Sein «Wir-werden-das-schaffen»-Versprechen an die Fans daheim muss der Bundestrainer gegen die robusten Schweden allerdings ohne einen Leistungsträger erfüllen. Mats Hummels hat sich im Training den Halswirbel verrenkt. «Ich denke, dass es keinen Sinn macht», sagte Löw am Freitag zu einem Einsatz des Innenverteidigers. Erste Option im Abwehrzentrum für Hummels ist dessen Münchner Kollege Niklas Süle.
Der keinesfalls verunsichert wirkende Bundestrainer gab eine klare Marschroute für Samstagabend aus: «Die zwei wichtigsten Waffen sind Energie und eine andere Körpersprache. Das ist eine WM der absoluten Hingabe und Leidenschaft.» Vize-Kapitän Sami Khedira formulierte es drastischer: «Das hat Deutschland immer stark gemacht, die Mentalität von elf Kriegern. Die müssen wir wieder reinbekommen.»
Geht’s wieder schief wie beim 0:1 gegen Mexiko, dürfte der Weltmeister ansonsten schon nach dem zweiten Gruppensppiel in Russland krachend gescheitert sein. «Jetzt zählt es, jetzt muss die Reaktion zu sehen und zu spüren sein auf dem Platz. Wir werden liefern müssen», sagte Löw. Der immense Druck auf Trainer und Spieler könnte sich kurz vor dem Anpfiff noch erhöhen. Nämlich dann, wenn die Mexikaner gegen Südkorea erneut punkten. Dann würde eine Niederlage gegen die robusten Schweden das historische Vorrunden-Aus besiegeln.
Ein Alptraum, der im DFB garantiert ein Beben auslösen würde – mit allen denkbaren Konsequenzen, auch für den bis zum verpatzten WM-Start in Russland unantastbaren Löw. Im Olympia-Ort Sotschi stehen Ruf und Zukunft aller auf dem Spiel. Intern wurde miteinander Klartext gesprochen und Besserung gelobt. «Wir sind immer noch eine sehr starke Mannschaft», sagte Teamsenior Mario Gomez am Freitag. Die Niederlage gegen Mexiko und die Kritik danach sei «ein Brett» gewesen, aber: «Die Stimmung ist seit gestern um einiges besser.»
Welcher Elf vertraut Löw? Und in welchem taktischen System? Das sind die Schlüsselfragen. Der Weltmeistercoach stellte zwei Dinge absolut heraus: Die grundsätzliche Spielidee werde er nicht infrage stellen. Und erst recht nicht die Leistungsträger der Vergangenheit inklusive Spielmacher Mesut Özil. «Ich bitte Sie, warum sollte das so sein?», antwortete Löw im Fischt-Stadion auf dpa-Nachfrage: «Ein grundsätzliches Vertrauen in diese Spieler wird nicht wegen eines Spiels in die Brüche gehen. Wir sind immer noch sehr weit oben in der Weltspitze. Wozu diese Spieler infrage stellen? Das wäre ja fatal!» Und über den im Kreuzfeier der Kritik stehenden Özil äußerte Löw: «Eines weiß man, was ich von Mesut Özil halte.» Immer noch viel.
Deutschlands WM-Spezialist Klose erklärte das erste K.o.-Spiel wie auch Löw vor allem zur Charakterfrage. «Ich mag die ganzen Ausreden nicht: Rasen zu hoch, Schiri schlecht, Sonne zu tief. Auf dem Platz ist das Entscheidende. Wir haben doch die Leute, die den Charakter haben, vornewegzugehen», sagte der Weltmeister von 2014.
Besonders gefordert ist jetzt auch ein Mann wie Trophäen-Sammler Toni Kroos, der gegen Mexiko im Zentrum abtauchte und nur wenig über Löws Joggingtempo hinauskam. «Es ist bei gestandenen Spielern so», sagte WM-Rekordtorschütze Klose nicht nur auf Kroos bezogen: «Du musst halt in den Spielen dann auch liefern.» Große Spieler wachsen unter Druck.
Die Schweden mit dem Leipziger Emil Forsberg dürften berechenbarer agieren als die flinken Mexikaner, die Löw und sein Team taktisch überrumpelten. «Der kollektive Verbund ist die Stärke der Schweden», sagte Löw. Die Skandinavier haben Probleme: Allein drei Akteure konnten wegen Magenschmerzen zunächst nicht nach Sotschi reisen.
Auch Deutschland benötigt wieder ein funktionierendes Kollektiv. «Es geht um die Mannschaftsleistung. Kein Einzelner kann das alleine beheben», betonte Khedira. Der Routinier gilt als Wackelkandidat. «Schweden spielt einen anderen Fußball. Dafür braucht man vielleicht auch anderes Personal», sagte der 31-Jährige. Er könnte im Mittelfeld ersetzt werden durch Ilkay Gündogan, Leon Goretzka oder Sebastian Rudy. Der wiedergenesene Jonas Hector wird wieder links verteidigen.
Auch offensiv muss sich mehr tun nach nur vier Treffern in den fünf Länderspielen 2018. «Wir brauchen Läufe in die Tiefe und Spieler, die diese Wege machen und Löcher für andere freilaufen», sagte Klose. Das klang verdächtig nach der Hereinnahme von Marco Reus, dem Festhalten an Thomas Müller und nicht zwingend nach einem Stürmerwechsel Mario Gomez für Timo Werner. Hohe Bälle in den Strafraum auf einen Brecher wie Gomez sieht der Bundestrainer nicht als probates Mittel gegen die kopfballstärken Skandinavier. «Da sagt der Gegner: Schönen Dank!»
Fazit: Im 108. WM-Spiel der deutschen Nationalmannschaft wird über den Fortbestand oder das abrupte Ende einer Goldenen Generation entschieden. Kapitän Manuel Neuer wählte beinahe Löws Worte für den unerwartet frühen ersten K.o.-Kampf in Russland. «Wir glauben und wissen, dass wir es schaffen können», sagte der Torwart. Ende oder Wende? Auflösung Samstagabend, kurz vor 22.00 Uhr deutscher Zeit.
Voraussichtliche Aufstellungen:
Deutschland: 1 Neuer (Bayern München/32/77) – 18 Kimmich (Bayern München/23/30), 17 Boateng (Bayern München/29/72), 15 Süle (Bayern München/22/11), 3 Hector (1. FC Köln/28/38) – 6 Khedira (Juventus Turin/31/76), 8 Kroos (Real Madrid/28/84) – 13 Müller (Bayern München/28/92), 10 Özil (FC Arsenal/29/91), 11 Reus (Borussia Dortmund/29/32) – 9 Werner (RB Leipzig/22/15)
Schweden: 1 Olsen (FC Kopenhagen/28 Jahre/19 Länderspiele) – 2 Lustig (Celtic Glasgow/31/67) , 3 Lindelöf (Manchester United/23/21), 4 Granqvist (FK Krasnodar/33/73), 6 Augustinsson (Werder Bremen/24/16) – 17 Claesson (FK Krasnodar/26/23), 7 Larsson (Hull City/33/101)), 8 Ekdal (Hamburger SV/28/35), 10 Forsberg (RB Leipzig/26/37) – 20 Toivonen (FC Toulouse/31/60), 9 Berg (Al-Ain FC/31/58)
Schiedsrichter: Szymon Marciniak (Polen)
(dpa)