Moskau – Landesweit Autokorsos und sogar Russland-Fahnen im Weltraum: Nach dem überraschenden Viertelfinal-Einzug der Nationalelf schwimmt der WM-Gastgeber auf einer Welle aus Euphorie und Ekstase.
«Jetzt ist alles möglich! England, Brasilien, Frankreich. Wir haben vor niemandem mehr Angst», schrieb die Zeitung «Sport-Express» nach dem 4:3 im Elfmeterschießen gegen Spanien und jubelte: «Das ist die absolut beste russische Nationalelf der Geschichte!» Überschwänglich feierte das Staatsfernsehen Erfolgstrainer Stanislaw Tschertschessow als «Juri Gagarin mit Schnurrbart» – in Anlehnung an den legendären Raumfahrer.
Strömendes Wohlwollen ergießt sich über die Mannschaft, die vor dem Turnier von einheimischen Fans und Medien abgeschrieben worden vor. Jetzt gratulierten sogar die russischen Kosmonauten auf der Internationalen Raumstation ISS und zeigten in einem Video die weiß-blau-rote Fahne. «Dieses Wunder gehört allen Russen», sagte Stürmer Artjom Dsjuba. «Wir haben gegen Spanien um jeden Fetzen des Spielfelds gekämpft und sind durch den Schmerz zum Sieg gegangen.»
Der bullige Angreifer mit der Eleganz einer Dampframme hatte in der regulären Spielzeit per Elfmeter (41.) die spanische Führung durch das Eigentor von Sergej Ignaschewitsch (12.) ausgeglichen. Es war bereits das dritte WM-Tor für den Stoßstürmer, der stets so wirkt, als warte er auf die Flanke wie ein Surfer auf die anrollende Welle.
Mit der letzten Unze Kraft – und einer strikten Defensivtaktik – rettete sich Russland ins Elfmeterschießen, in dem Torhüter Igor Akinfejew mit zwei abgewehrten Schüssen zum Helden avancierte. Turnier-Mitfavorit Spanien – seit Jahren gewohnt, den Gegner früh zu erledigen – fand gegen das weiße Bollwerk kein Rezept. Nun will der WM-Gastgeber am Samstag in Sotschi den nächsten Coup gegen Kroatien, das im Elfmeterschießen Dänemark besiegte. Russland im Halbfinale? Unfassbar – und doch greifbar nah. «Wir schaffen das!», titelte die renommierte Zeitung «Kommersant» ungewöhnlich euphorisch.
Bis in den Morgen feierten die sonst oft in sich gekehrten Russen mit Autokorsos und viel Wodka den Sensationssieg. In der Moskauer Metro schlugen Fans auf große Trommeln. Und die Polizei schaute nur zu.
Gegen die unbequemen Kroaten droht aber der Ausfall von Juri Schirkow – das «dritte und vierte Bein von Tschertschessow», wie russische Zeitungen den Routinier von Zenit St. Petersburg nennen. Als Lückenstopfer und Antreiber ist der 34-Jährige schwer ersetzbar, nun schmerzt den Ex-Profi von Chelsea jedoch die Achillessehne. «Ich fürchte, das war sein letztes Spiel bei diesem Turnier», unkte Tschertschessow nach der Partie gegen Spanien im Luschniki-Stadion.
Wladimir Putin verlor nach dem Triumph keine Zeit: Wartete der Kremlchef nach dem 5:0 im Eröffnungsspiel gegen Saudi-Arabien mit dem Anruf noch bis zur Pressekonferenz, griff er diesmal gar zweimal zum Hörer: Der Präsident wünschte Tschertschessow vor dem Spiel Glück und gratulierte nach der Begegnung.
Zwei Putin-Vertraute überraschten die Sieger nach dem Thriller sogar in der Umkleidekabine: Regierungschef Dmitri Medwedew und der umstrittene Sportfunktionär Witali Mutko jubelten mit den Spielern. Für einen Moment wurde da wieder die Bindung von Sport und Politik im Riesenreich ganz deutlich. Schon bei der Vergabe der WM nach Russland war klar: Es geht auch bei diesem Turnier nicht nur um Ballsport.
Für den russischen Fußball könnte der Einzug in die Runde der acht Besten – der größte Erfolg seit dem Viertelfinaleinzug der damaligen Sowjetunion bei der WM 1970 – zur «Stunde Null» werden. «Die Chance, sich vom Nationalsport Eishockey zu emanzipieren, war vielleicht noch nie so groß», meint etwa der Sportkommentator Wladimir Rausch. Immer noch tut sich der Fußball schwer in einem Land, dessen Fläche wegen des Klimas zu weiten Teilen unbespielbar ist. Und trotz WM: Es fehlt an nachhaltiger Unterstützung. Rund alle zwei Monate zeigt sich Putin in Eishockeymontur. Aber in kurzer Fußballer-Hose? Unvorstellbar.
Tschertschessow sehnt für Russland eine Entwicklung herbei wie in Deutschland. «Ich sehe uns an einem Punkt wie Deutschland 2004, als Jürgen Klinsmann zusammen mit Joachim Löw und Oliver Bierhoff das Zepter übernommen haben», sagt der frühere Bundesligaprofi von Dynamo Dresden. Und er hofft auf ein Wiedersehen mit dem in die Kritik geratenen Löw, mit dem er einst als Torwart in Innsbruck gearbeitet hat: Am 15. November kommt Russland zum Testspiel nach Leipzig.
(dpa)