Berlin – Nach ihrem 100-Meter-Sprint zu EM-Silber musste Gina Lückenkemper noch einen Marathon absolvieren.
«Ich war nach dem Finale eine Ewigkeit in der Mixed Zone für Interviews, die Dopingkontrolle war 20 Minuten nach Mitternacht. Kurz vor eins war ich dann im EM-Club und um 2.30 Uhr endlich im Hotel», erzählte Deutschlands schnellste Frau am Morgen nach ihrem Sturmlauf.
«Um 7.15 Uhr hat heute früh der Wecker geklingelt, kurz vor halb neun war ich im ARD-Morgenmagazin», sagte die 21-Jährige, die im Berliner Olympiastadion gleich zweimal – im Halbfinale und im Endlauf – unter 11 Sekunden geblieben war. Das ist die Barriere, die im Frauensprint zwei Welten trennt. Im Finale waren die 10,98 Sekunden dann Silber wert, Lückenkemper musste sich nur der Britin Dina Asher-Smith geschlagen geben (10,85).
Dass die über 34.000 Zuschauer richtig Stimmung gemacht haben, das fand Gina Lückenkemper «einfach nur geil». Von ihrem Finale muss sie sich aber von anderen erzählen lassen. «Ich hab‘ den totalen Filmriss. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was da gestern passiert ist. Nur noch, dass ich mich ins Ziel reingeworfen habe», sagte die Ausnahmekönnerin am Tag danach.
Die schmucke Silberplakette kommt jetzt zu den vielen anderen Medaillen, die das größte deutsche Sprinttalent schon eingeheimst hat. «Unter die Glasplatte im Wohnzimmertisch. Da liegen sie alle», verriet die flotte Gina, die am Schluss-Sonntag in der 4x-100-Meter-
Staffel noch einmal zuschlagen will. Zwei Medaillen bei den Leichtathletik-Europameisterschaften in Berlin – das hatte sich die Athletin von Bayer Leverkusen vorgenommen.
Vieles im Leben ist der selbstbewussten jungen Frau aus dem westfälischen Soest wichtig, an erster Stelle steht aber die Familie. Die Eltern und ihr Freund waren am silbernen Finalabend auch im Stadion. Fünf bis sechs Trainingseinheiten absolviert sie in der Woche, an der Ruhr-Uni Bochum studiert sie Wirtschaftspsychologie. Und auch um ihr Patenkind in Ghana kümmert sie sich.
Ihr Pferd Picasso wird zu Hause an den heißen Tagen bestens versorgt. «Er bekommt immer sein Wasser, und ich bekomme regelmäßig Fotos vom Stallbesitzer. Eine Freundin von mir reitet ihn jetzt für mich», erzählte Lückenkemper. «Ich freue mich schon wieder auf den Stallgeruch, wenn ich nächste Woche nach Hause komme.»
Ihre Bestzeit rannte Lückenkemper vor einem Jahr bei der WM in London: 10,95 Sekunden. In der ewigen deutschen Bestenliste stehen nun (noch) sechs Sprinterinnen vor ihr – alle aus der DDR, die Zeiten gerannt zwischen 1982 und 1988.
Lückenkemper hat sich deshalb auch für zwei verschiedene Rekord- und Bestenlisten ausgesprochen. Doping ist und bleibt für sie ein Unding. «Ich könnte das meinem Körper niemals zumuten. Und ich könnte es meinem Gewissen nicht zumuten», versicherte sie. «Meinen Körper mutwillig für eine Medaille zu zerstören, das ist es mir nicht wert.»
(dpa)