Berlin – Der Anruf kommt um halb zwölf. Das Telefon klingelt in der Elektroabteilung vom «Kaufhof» in Frankfurt. Dort hat Armin Hary gerade einen Fernseher verkauft. Ahnungslos nimmt der junge Mann ab – und ist sofort elektrisiert.
Denn mit dieser wundersamen Wendung hat der beste deutsche Sprinter gar nicht mehr gerechnet: Auf den letzten Drücker lädt Zürich den 23-Jährigen zum Abend-Meeting ins Letzigrund-Stadion ein, obwohl der Deutsche Leichtathletik-Verband seinen Olympia-Assen ja eigentlich ein Startverbot erteilt hat. Hary entert eine Frachtmaschine, genehmigt sich am Nachmittag in Zürich noch ein Nickerchen – und rennt am Abend des 21. Juni 1960 Weltrekord.
Als erster Mensch sprintet der explosive Schnellstarter die 100 Meter in 10,0 Sekunden: mit 480 Gramm schweren Spikes, auf einer gut gepflegten Aschenbahn, im ausverkauften Letzigrund. «Das war einer der aufregendsten Tage, die ich je erlebt habe», erzählt Armin Hary in einem Gespräch der Deutschen Presse-Agentur. «Ich war heiß darauf. Ich wusste, dass Zürich eine schnelle Bahn hat und dass ich in Top-Form bin. Ich brannte!», sagt der bis dato letzte deutsche Weltrekordler in der prestigeträchtigsten Disziplin der Leichtathletik. Genau 72 Tage später ist der Bergmannssohn aus dem saarländischen Quierschied auch Olympiasieger.
Hary erinnert sich auch 60 Jahre danach noch sehr gut an den Wahnsinns-Tag. «Das war eine Hetze und eine Nervosität. Aber meine Nerven waren damals so gut wie meine Beine», erzählt er lachend. Irre sechs Stunden liegen zwischen dem Go und dem Weltrekordrennen. «Die Flüge nach Zürich waren alle total ausgebucht. Ich bin dann mit einer Frachtmaschine mitgeflogen», schildert er.
Eigentlich sprach alles gegen einen Weltrekord. Nicht nur die hektische Dienstreise von der einen in die andere Banken-Metropole. Hary hatte am Vorabend besonders hart trainiert – das ist Gift für einen Wettkampf am Folgetag. Das Kampfgericht reklamiert einen Fehlstart, doch der nervöse Starter schießt das Feld nicht einmal zurück. «Das war kein Fehlstart – da bin ich ganz sicher!», meint Hary noch heute und verweist auf seine besonders schnellen Reaktionszeiten. So sind die handgestoppten 10,0 Sekunden zunächst nichts wert. Der Sieger ist stinksauer und will schon einpacken.
Doch dann kommt ein deutscher Sportjournalist ins Spiel: Gustav Schwenk. «Du kannst einen zweiten Lauf verlangen, wenn Du zwei Läufer findest, die im ersten Rennen dabei waren», hat er mir fast beschwörend gesagt. Rund 30 Minuten später wird das Rennen in einer Zeitplanlücke wiederholt, mit nur drei Sprintern in den Startblöcken.
Um 20.20 Uhr kracht der Schuss. Mit 45 schnellen Schritten – der längste ist 2,29 Meter lang – verewigt sich der «blonde Blitz» in den Leichtathletik-Annalen. «Zweimal 10,0 hintereinander – das ist schon verrückt», sagt Hary, der heute im bayerischen Adlhausen lebt.
Vier Uhren lügen nicht: 10,0 – 10,0 – 10,1 – 10,0. Diesmal steht der Weltrekord! Nicht im zweiten, sondern eigentlich erst im dritten Anlauf ist er am Ziel: Denn schon am 6. September 1958 zaubert «Hurry Hary» diese Traumzeit bei einem Provinz-Sportfest in Friedrichshafen auf die Aschenbahn – doch die hat ein Gefälle von 10,9 Zentimetern. Neun Millimeter zu viel.
Antrittsprämie? Siegerpreis? Weltrekordbonus? Nichts da. «Geld war verboten! Es gab gar nichts. Geschenke bis zu 50 D-Mark, die durften wir annehmen, eine Aktentasche zum Beispiel. Aber davon hatte ich schon 20…», sagt Hary, der über Nacht in Zürich bleibt und herrlich schläft – auch ohne Alkohol. «Getrunken habe ich nichts – aber die Nacht war kurz», erzählt er lachend.
Gut zwei Monate später bekommt der Frankfurter dann doch noch den Lohn für seine schnellen Beine und starken Nerven: Am 1. September 1960 schnappt er sich in Rom Gold im 100-Meter-Finale – vor allen Amerikanern. Als Zugabe gibt’s eine Woche später Gold mit der DLV-Staffel über 4 x 100 Meter.
«Der Olympiasieg über 100 Meter war die sportliche Krönung meines Lebens! Und in der Staffel bin ich dann wahrscheinlich das schnellste Rennen meiner Karriere gelaufen – laut Stoppuhren und Statistik 9,0 Sekunden gelaufen, auf der Gegengeraden, fliegend», erzählt er stolz.
Schon mit 21 wird er Doppel-Europameister, 1960 folgen Weltrekord und Olympiasiege. Doch Harys Karriere ist nach einer Verletzung abrupt vorbei, ehe sie überhaupt voll in Fahrt kommt. Andere hätten sich diese vier tollen Jahre, von 1957 bis Ende 1960, gewünscht.
Manfred Germar will seinen alten Freund am Sonntag mal anrufen. «Wir haben früher bei Länderkämpfen oder Meisterschaften immer ein Zimmer geteilt. Auch bei Olympia in Rom», sagt der gebürtige Kölner der dpa. Staffel-Gold war 1960 eigentlich für Germar reserviert, doch der etatmäßige Schlussläufer musste seinen Platz wegen einer Weisheitszahn-OP, Trainingsrückstands und Formschwäche für Martin Lauer frei machen. «Das war damals bitter.»
Noch 60 Jahre nach seinem Triumph in der Ewigen Stadt bekommt Hary Autogrammpost, fast täglich, aus aller Welt, gerade kam ein dickes Paket aus China. «Da steht manchmal wirklich nur «Hary, Germany» drauf. Oder «an den Olympiasieger Hary». Nichts weiter. Das reicht, kommt alles an», schwört er.
(dpa)