«Glauben an Wunder» – England nach Torgala in WM-Stimmung

Nischni Nowgorod (dpa) – Die mitgereisten England-Fans feierten noch die ganze Nacht in der 1,2-Millionen-Stadt Nischni Nowgorod an der Wolga.

Das 6:1 (5:0) der Three Lions gegen Panama, Englands höchster Sieg in der WM-Geschichte, wirkt nach Jahren der englischen Enttäuschung wie eine Initialzündung für ein neues Fußball-Selbstbewusstsein. Die Boulevard-Zeitung «The Sun» titelte nun: «Wir glauben an Wunder.» Aber ist England jetzt wirklich schon ein Titelkandidat?

Stürmerstar Harry Kane hatte schon vor dem Turnier erklärt, er fahre nach Russland, um die WM zu gewinnen. «Man muss daran glauben», betonte er jetzt erneut nach dem Torfestival, zu dem er selbst drei Tore beigesteuert hatte. Dank zwei Treffern von John Stones und einem Traumtor von Jesse Lingard gelang England der «Sixpack». Und die sonst so kritischen englischen Medien überschlagen sich auf einmal mit Lob. «Sie haben unsere Löwenherzen brüllen lassen», schwärmte die «Daily Mail». «The Times» schrieb: «Harrys Heldentaten lassen die Fans vom Unglaublichen träumen.»

Die Spieler waren nach der furiosen Partie unter der prallen russischen Sonne mit Temperaturen von über 30 Grad erschöpft, aber glücklich. Kane postete bei Instagram ein Bild aus dem Flieger zurück nach St. Petersburg, auf dem der Kapitän von erschöpften, aber strahlenden Gesichtern umgeben ist. «Ich liebe dieses Team», schrieb Kane, der nach seinem Dreierpack einen der Spielbälle präsentierte. «Bin stolz auf meinen ersten WM-Hattrick. Wir machen weiter.»

Im Stadion von Nischni Nowgorow war nach jedem englischen Tor der Fußball-Gassenhauer «Football’s Coming Home» erklungen, der die bezeichnende Zeile «No more years of hurt» («Keine Jahre der Schmerzen mehr») enthält. Dieses 6:1 war Balsam für die geschundene Fußballseele der Engländer, die vor vier Jahren bei der WM in Brasilien als Letzter der Vorrundengruppe ausgeschieden waren und sich dann 2016 im EM-Achtelfinale gegen Island blamiert hatten.

Die neue Euphorie im Land ist für das junge Team von Trainer Gareth Southgate eine ungewohnte Situation. Seit seinem Antritt vor noch nicht mal zwei Jahren wurden die Three Lions überwiegend mit Skepsis betrachtet. Vor der WM war die Erwartungshaltung auf der Insel ungewohnt niedrig. Doch nach dem furiosen Auftritt gegen Panama, bei dem so ziemlich alles gelang, hofft ganz England auf mehr. Nur der Coach hatte etwas zu meckern. «Der Start und das Gegentor am Ende haben mir nicht gefallen», sagte Southgate und grinste, «aber ich bin auch hyperkritisch.»

Wie gut seine Mannschaft wirklich ist, wird sich wohl erst am Donnerstagabend im Gruppenfinale gegen das ungeschlagene Belgien zeigen. Beide Teams sind mit jeweils sechs Punkten und 8:2 Toren gleichauf. Bei einem Remis würden die Fairplay-Wertung und eventuell sogar das Los über Platz 1 in der Gruppe entscheiden – für den Trainer vorerst kein Thema. «Es ist schön, dass es ein Spiel wird, in dem wir nicht bis zum Hals unter Druck stehen», freute er sich.

Doch auch wenn den Engländern das Achtelfinale sicher ist – das Spiel um Platz eins ist ein Realitätscheck für den weiteren Verlauf des Turniers. «Wir wollen den Schwung jetzt mitnehmen», kündigte Southgate deshalb selbstbewusst an. Denn er weiß: Sollte das nicht gelingen, könnte es mit der Euphorie in England auch ganz schnell wieder vorbei sein.

«Wir müssen jetzt die Harmonie im Team beibehalten», erklärte Southgate weiter, «es gibt einige Spieler, die nicht ins Spiel kamen, die genauso wichtig sind. Aber wir brauchen alle im weiteren Verlauf des Turniers.» Ob er in der nächsten Partie womöglich einige Stars schont, ließ der Coach noch offen. Belgiens Trainer Roberto Martinez hatte angedeutet, am Donnerstag eventuell Leistungsträger wie Romelu Lukaku oder Eden Hazard auf der Bank zu lassen.

Kane, der in zwei Begegnungen fünf Treffer erzielt hat, will unbedingt dabei sein. «Ich will spielen, ich will in dieser Form weitermachen», sagte der 24-Jährige. «Es ist wichtig, dass wir Gruppenerster werden.» Kane ist erst der dritte Engländer nach Geoff Hurst (1966) und Gary Lineker (1986), dem drei Tore in einem WM-Spiel gelingen.

Lineker, inzwischen TV-Moderator und Twitter-Ikone, fasste die neue englische Fußballstimmung mit einem Tweet zusammen. «Das wird gerade zu einer denkwürdigen und spannenden Weltmeisterschaft», schrieb er. «Hoffentlich geht das noch lange so weiter.»

(dpa)