Frankfurt/Main – Eine Entscheidung über die Zukunft von Joachim Löw als Bundestrainer lässt auf sich warten. Die Analyse des historischen Scheiterns der Fußball-Nationalmannschaft bei der WM fängt gerade erst an.
Wie konnte es zu dem WM-Debakel kommen?
Das Prinzip Löw hat erstmals bei einem Turnier nicht funktioniert. Immer wieder hatte es der Bundestrainer geschafft, in kurzer Zeit auch unter schlechten Vorzeichen ein Team zusammenzuschweißen – so auch vor dem Triumph in Brasilien 2014. Das Selbstbewusstsein, dass dies auch diesmal quasi als Selbstläufer funktionieren würde, war fatal. Sportlich lief es nämlich schon lange nicht gut.
Die perfekte Quali-Runde gegen Teams wie Nordirland und Aserbaidschan war letztlich keine Prüfung auf WM-Niveau. Die mauen Ergebnisse in den Tests gegen England (0:0), Frankreich (2:2), Spanien (1:1), Brasilien (0:1), Österreich (1:2) und Saudi-Arabien (2:1) wurden schöngeredet.
Löw vertraute auf seine bewährten Kräfte wie Sami Khedira, Thomas Müller und Mesut Özil, obwohl diese schon für ihre Clubs eine Saison unter Top-Niveau spielten. Teil der Aufarbeitung muss auch sein, was zwischenmenschlich im Team nicht stimmte. Risse zwischen den Weltmeistern von 2014 und Confed-Cup-Siegern von 2017 wollte offiziell niemand bestätigen. Es war aber kaum zu verheimlichen, dass im Team für ein unverzichtbares Gemeinschaftsgefühl viel mehr fehlte als die Vokale in dem vom DFB erkorenen Marketing-Turnier-Slogan #zsmmn.
Wie reagiert Joachim Löw jetzt?
Der gescheiterte Weltmeister-Coach übernahm sofort die Verantwortung für den K.o. Was das konkret bedeutet, ist aber immer noch offen. Löw war auch in Erfolgstagen kein Mann für schnelle Entscheidungen. Nach Turnieren zog er sich immer erst einmal in den Urlaub zurück – so auch nach dem WM-Triumph vor vier Jahren. Löw braucht diese Phase der Reflexion. Der Rücktritt auf dem Karriere-Gipfel blieb damals aus. Löw hatte noch viel vor mit seiner Goldenen Generation. Diesmal dürfte Löw keine lange Phase der Selbstfindung im Sommerurlaub eingeräumt werden. Fußball-Deutschland wartet auf eine Entscheidung.
Was bedeutet das Zögern von DFB-Präsident Reinhard Grindel?
Der DFB-Chef war Politiker. Er hat ein Näschen dafür, unpopuläre Entscheidungen erstmal zu umschiffen. Das merkt man in der größten Krise seiner noch kurzen Amtszeit als Verbandsboss. Statt die nötige Aufarbeitung selbst sofort in führender Rolle anzupacken, delegiert er die Zuständigkeit erstmal an Teammanager Oliver Bierhoff. Noch steht Grindel fast bedingungslos hinter Löw. Er selbst hat den Vertrag auch ohne Not erst im Mai bis 2022 verlängert.
Ist Oliver Bierhoff der Richtige für das Krisenmanagement?
Der Europameister von 1996 hat sich zu einem der stärksten Männer im DFB entwickelt. Im Direktoren-Posten verantwortet er den gesamten Auswahlbereich und leitet das wichtige Zukunftsprojekt der Akademie. Das Nationalteam wurde unter ihm zum erfolgreichen Marketing-Produkt. Frei von Kritik ist Bierhoff nicht. Den Konflikt um die Erdogan-Fotos von Mesut Özil und Ilkay Gündogan konnte er nicht entschärfen. Die von ihm organisierte WM-Logistik mit dem Sportschulen-Quartier in Watutinki war nicht optimal. Seine Bindung zu Löw ist nach den vielen Erfolgsjahren eng, aber wohl auch nicht bedingungslos.
Wer wären Trainer-Kandidaten für einen Neuanfang?
2004 bildete der DFB nach dem EM-Aus unter Rudi Völler eine Bundestrainer-Findungskommission. Die brachte Reformator Jürgen Klinsmann ins Amt. Ein solches Gremium hätte es in diesem Sommer schwer. Viele Optionen für den Top-Job sind nicht verfügbar. Die populäre Variante Jürgen Klopp müsste in Liverpool losgeeist werden. Thomas Tuchel beginnt gerade seine erste große internationale Aufgabe bei Paris Saint-Germain.
Leipzigs Ex-Coach Ralph Hasenhüttl ist eine auf dem Markt verfügbare Variante. Ein Österreicher im DFB-Amt wäre ein Novum. Noch nie war ein Ausländer Bundestrainer. Ob sich der DFB für eine solche Option öffnen würde, ist noch Spekulation. Der Däne Morten Olsen war 2004 einmal Kandidat, ist aber längst in Rente. Damals fiel die Wahl auf Klinsmann, der derzeit keinen Trainerjob hat.
Gibt es unter den Spielern eine Rücktrittswelle?
Noch hat keiner der 23 WM-Verlierer seinen Rücktritt erklärt. Manuel Neuer (32) hat klargemacht, dass er weitermachen will. «Ich habe nicht vor aufzuhören», bekräftigte er am Donnerstag in einem Interview auf der DFB-Homepage. Der Kapitän ist der einzige der Generation Ü30, der seine Zukunft im Adler-Trikot selbst bestimmen kann. Mario Gomez (32 Jahre) und Sami Khedira (31) stehen vom Alter her nicht für den Neuaufbau. Mesut Özil (29) und Ilkay Gündogan (27) müssen sich nach der Erdogan-Affäre sportlich beweisen. Mats Hummels, Jérôme Boateng (beide 29), Toni Kroos und Thomas Müller (beide 28) sind wie auch Marco Reus (29), Sebastian Rudy oder Jonas Hector (beide 28) eigentlich noch im guten Alter.
Wer sind die Kandidaten für einen Neuanfang?
Joshua Kimmich (23) ist ein Mann für die Zukunft wie auch Timo Werner (22). Julian Draxler (24), Leon Goretzka (23) oder Julian Brandt (22) haben ihre Zukunft auch noch vor sich. Der im Trainingslager aussortierte Leroy Sané (22) oder der nicht berücksichtige Finaltorschütze von 2014, Mario Götze (26), können auf eine Rückkehr ins DFB-Trikot hoffen. Ein mögliches Problem: Aus dem Juniorenbereich drängt sich noch kein Hoffnungsträger auf. Die U19 konnte sich nicht für ihre EM qualifizieren, die U17 scheiterte in der Gruppenphase.
Wie geht es für die Nationalmannschaft sportlich weiter?
Nur 71 Tage dauert die Länderspielpause. Dann beginnt mit dem Duell gegen Frankreich in München gleich der nächste Wettbewerb. Die Niederlande ist der weitere Gegner in der neuen Nationenliga. Nach Hin- und Rückspielen noch in diesem Herbst qualifiziert sich der Gruppensieger für das Finalturnier im Juni 2019. Zudem sind 2018 noch Tests gegen Peru (9. September) und Russland (15. November) vereinbart. Die Qualifikation für die EM 2020 beginnt im kommenden März. Die deutschen Gegner werden am 2. Dezember in Dublin ausgelost.
(dpa)