Madrid (dpa) – Amancio flankt den Ball in den Strafraum, Marcelino Martínez überwindet per Kopfball die sowjetische Torwart-Legende Lew Jaschin, Spanien ist Europameister. So sahen die spanischen Fußballfans den Siegtreffer im Fernsehen und in der Wochenschau in den Kinos.
Der Filmausschnitt vom Finale der EM 1964 hatte jedoch einen Nachteil: Die Aufnahme war gefälscht. Spanien hatte das Endspiel gegen die Sowjetunion in der Tat 2:1 gewonnen, und der Schütze des Siegtores war Marcelino, aber die Flanke kam nicht vom Real-Madrid-Star Amancio. Der Vorbereiter war vielmehr ein gewisser Jesús María Pereda vom FC Barcelona. Erst mehr als 40 Jahre später gab das staatliche Fernsehen TVE offiziell zu, dass es den Zusammenschnitt manipuliert hatte.
Der Grund: Die einzige Kamera, die beim Finale im Madrider Bernabéu-Stadion im Einsatz war, hatte die Vorlage von Pereda nicht eingefangen. Daher schnitten die TV-Leute nachträglich eine Amancio-Flanke aus einer völlig anderen Spielszene ein und erweckten so den Eindruck, als hätte der Madrilene das Siegtor vorbereitet.
«Was soll’s?», sagte Pereda später. «Die Hauptsache war, dass wir das Finale gewonnen haben.» Der 2011 gestorbene Barça-Stürmer war der eigentliche Held des Finales. Er hatte nicht nur die Vorlage zum Siegtor gegeben, sondern Spanien auch in der 6. Minute in Führung gebracht. Galimsjan Chussainow glich zwei Minuten später für die Sowjets aus. Für Spanien war der EM-Sieg 1964 der erste Titel.
Das Siegtor von Marcelino (84.) blieb 44 Jahre lang der wichtigste Treffer der Nationalelf; denn danach gewannen die Spanier jahrzehntelang kein großes Turnier mehr und schieden zumeist spätestens im Viertelfinale aus. Dies änderte sich erst, als Fernando Torres die Spanier 2008 im EM-Finale in Wien zum 1:0-Erfolg über Deutschland schoss, Andrés Iniesta 2010 im WM-Finale in Johannesburg den Siegtreffer gegen die Niederlande erzielte und die Selección 2012 mit einem 4:0-Sieg über Italien den EM-Titel verteidigte.
Das Endspiel der EM 1964 gegen die Sowjetunion war in Spanien eine hochbrisante Angelegenheit. Eine Zeit lang schien es sogar fraglich zu sein, ob es überhaupt stattfinden würde. Das Regime des Diktators Francisco Franco war in Europa politisch isoliert, es unterhielt keine diplomatischen Beziehungen zur UdSSR. Franco betrachtete die in Moskau herrschenden Kommunisten als Todfeinde.
Vier Jahre zuvor hatte der Diktator das EM-Viertelfinale zwischen Spanien und der Sowjetunion, das damals als Hin- und Rückspiel ausgetragen wurde, einfach absagen lassen. Der Generalísimo hatte befürchtet, dass beim Gastspiel der Sowjets in Spanien kommunistische Parolen skandiert würden. Spanien hatte Glück, dass die UEFA das Land nicht sperrte, sondern es bei einer Geldstrafe bewenden ließ.
Beim EM-Finale 1964 ließ der Diktator es nicht zu einem neuen Eklat kommen. Franco nahm sogar im Bernabéu-Stadion auf der Tribüne Platz. Marcelinos Siegtor zum 2:1 der Spanier ersparte ihm die Demütigung, einem Triumph des Erzfeindes beiwohnen zu müssen.
Die EM 1964 wurde – wie der Europacup – im K.o.-Verfahren ausgespielt. Nur das Halbfinale und das Endspiel fanden in Spanien statt. Die Bundesrepublik hatte den «Europapokal der Nationen», wie der Wettbewerb damals hieß, nicht ernst genommen und sich gar nicht erst angemeldet. Die DDR schied im Achtelfinale gegen Ungarn aus.
Spaniens Trainer José Villalonga hatte auf alternde Stars wie Alfredo di Stéfano verzichtet und eine verjüngte Elf aufgeboten. Marcelino war die «Perle» eines starken Teams von Real Saragossa. Er spielte nur 14-mal für die Nationalelf, beendete seine Karriere früh und wandte sich ganz vom Fußball ab.
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(dpa)