Saarbrücken – Im wirtschaftlichen Überlebenskampf der Fußball-Bundesliga in der Corona-Krise soll DFB-Chefmediziner Tim Meyer mit einer von ihm geleiteten Task Force zur Rettung beitragen.
Der langjährige Arzt der deutschen Nationalmannschaft hat dafür mit der von der Deutschen Fußball Liga eingesetzten Expertengruppe ein Konzept erstellt, wie die Saison mit Geisterspielen zu Ende gespielt werden könnte. «Ich halte die Umsetzung auch medizinisch für vertretbar», sagt der 52 Jahre alte Leiter des Instituts für Sport- und Präventivmedizin der Universität des Saarlandes im Interview der Deutschen Presse-Agentur.
Wie herausfordernd war es für Sie und die von Ihnen geleitete Task Force, unter hohem Zeitdruck ein tragfähiges Konzept für eine Saisonfortsetzung im deutschen Profifußball zu erstellen?
Tim Meyer: Ich habe den öffentlichen Druck schon empfunden. Die Arbeit in der Task Force selbst war aber sehr angenehm, sehr kollegial und erfolgte mit unheimlich viel Einsatz von allen Beteiligten. Wenn aber parallel eine öffentliche Debatte läuft, bedeutet das schon Druck, den man verspürt. Viele Leute sprechen einen auch privat an, was logisch ist.
Bei der deutschen Nationalmannschaft arbeiten Sie eher im Schatten von Bundestrainer Joachim Löw oder auch der Spieler. Wie gehen Sie nun mit der Rolle um, plötzlich als einer der möglichen Retter der Fußball-Bundesliga im öffentlichen Fokus zu stehen?
Meyer: Solche Bezeichnungen habe ich auch als Medien-Mechanismus wahrgenommen. Am liebsten hat man dort den Helden oder den Versager. So wird die Fallhöhe aber auch recht groß gemacht. Als Vorsitzender der Medizinischen Kommission des DFB fühlte ich mich aber auch verpflichtet, diese Aufgabe zu übernehmen. Da war ich logischerweise der erste Kandidat, zumal Infekte im Sport ein wissenschaftliches Interessensgebiet von mir sind. Aber innerlich schreit man nicht «hurra», denn dass das ein emotional besetztes Thema sein würde, war mir schnell klar.
Wie überzeugt sind Sie, dass das Konzept zur Durchführung von Geisterspielen funktioniert, wenn die Politik und die zuständigen Behörden Grünes Licht geben sollten?
Meyer: Ich bin sicher, dass dieses Konzept funktionieren kann. Es ist nach meiner Auffassung sorgfältig gemacht. Wir haben uns auch sehr eng abgestimmt mit Kollegen in anderen Ländern, die ähnlich denken. Es gibt kaum konzeptionelle Alternativen. Ich halte die Umsetzung auch medizinisch für vertretbar. Es war für mich in dieser Corona-Krise auf jeden Fall ein Ziel, mit dem ich mich identifizieren konnte. Als Mediziner im Fußball habe ich meine und unsere Aufgabe darin gesehen, für die Fußballer bei Ausübung ihres Berufs eine medizinisch vertretbare Sicherheit zu gewährleisten.
Geisterspiele kennen wir schon, aber nicht im Zuge einer Virus-Pandemie. Insofern ist eine Pionierleistung erforderlich. Was waren die größten Probleme und wo lauern die größten Gefahren?
Meyer: Einfacher war das Konzept für die Trainingsstätten und die Stadien. Da mussten wir in erster Linie gründlich sein. Das war vor allem eine Fleißarbeit. Da geht es um Dinge wie Distanz halten oder um Seife und Desinfektionsmittel oder eine konsequente Trennung von Gruppen. Da mussten wir in erster Linie allgemeine Richtlinien herunterbrechen auf den Fußball.
Und was war kompliziert?
Meyer: Schwieriger ist die Entscheidung: Wie testet man? Und in welcher Frequenz? Man könnte natürlich jeden Tag testen, was medizinisch am sichersten wäre. Aber das ist weder den Spielern zuzumuten, noch ist es ein sinnvolles und bezahlbares medizinisches Konzept, das der Bevölkerung zuzumuten wäre. Es geht um eine vertretbare Kompromisslösung.
Was passiert, wenn irgendwo einer oder mehrere Corona-Fälle auftreten?
Meyer: Idealerweise vermeiden wir dieses Szenario, weil alle Personen diszipliniert sind. Wenn es aber zu einer Infektion kommt, wird der Fall dem örtlichen Gesundheitsamt gemeldet. Und das wird dann entscheiden, wie mit dem Fall umzugehen ist. Ziel unserer umfangreichen Sicherungsmaßnahmen ist, dass dann nicht automatisch der gesamte Kader 14 Tage in Quarantäne geht. Denn wenn das passieren würde, bringt es den Spielplan unter großen Druck. Natürlich wird die infizierte Person isoliert und beobachtet, ebenso die Kontaktpersonen, die dann in Abstimmung mit dem Gesundheitsamt beobachtet und isoliert würden.
Ein oder zwei infizierte Spieler müssten dann also nicht dazu führen, dass eine Mannschaft nicht mehr am Spielbetrieb teilnehmen könnte?
Meyer: Genau.
Ein Kritikpunkt sind die vielen notwendigen Testungen der Profis. Der SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach kritisiert eine Lex Bundesliga, während in Pflegeheimen und bei Lehrern noch nicht ausreichend getestet werden könne. Können Sie das entkräften?
Meyer: Ja. Wir haben mit vielen Laboren gesprochen. Dort wird dieses Problem überhaupt nicht gesehen. Bei den 36 Vereinen der 1. und 2. Liga handelt es sich jeweils um circa 40 Personen. Bei den Testungen ginge es dann bis Ende Juni um neun bis zehn Wochen. Rechnen wir zur Vereinfachung mit zehn, dann ergäbe das eine Zahl von 14.400 Tests. Da es Englische Wochen geben wird, kommen wir auf ungefähr 20.000 Tests. Das sind pro Woche rund 2000 Tests bei einer Kapazität von heute 818.000, die noch deutlich ausgebaut wird.
Fußballer sind Menschen, die ein familiäres Umfeld haben. Nicht jeder wird begeistert über Geisterspiele unter dem Risiko des Coronavirus sein. Was antworten Sie einem Nationalspieler, der Sie anruft und fragt: Hallo Doktor, wie gefährlich ist das für mich?
Meyer: Ich würde ihn ganz ehrlich aufklären, sodass er eine freie Entscheidung treffen kann. Ich würde ihm sagen, das Risiko ist für dich individuell sicherlich ausgesprochen gering, aber natürlich liegt es nicht bei null. Null ist unmöglich in dieser Pandemie. Angesichts des Feedbacks aus den Vereinen wäre ich relativ zuversichtlich, dass er sich pro spielen entscheidet. Aber es mag auch Einzelne geben, die sich dagegen entscheiden könnten, weil sie Vorerkrankungen haben oder enge Angehörige, die Risiko-Patienten sind, oder aus noch anderen Gründen. Das müsste man dann akzeptieren.
Wie würde ein Spiel in der Praxis aussehen? Fußball ist immerhin ein Kontaktsport. Haben Sie in der Task Force erwogen, dass Spieler Masken tragen und nicht nur die Torhüter Handschuhe?
Meyer: Nein. Prämisse war: Auf dem Platz bleibt alles unverändert. Es gab auch Vorschläge wie den, dass Spieler in der Freistoßmauer Abstand voneinander halten sollten. Da würden die Zuschauer den Fußball jedoch nicht mehr als authentisch empfinden. Wenn Spieler mit Masken spielen würden, das fände aus meiner Sicht keine Akzeptanz.
Die Spieler sollen sich also – so gut es geht – normal verhalten auf dem Platz. Und sie dürfen sich auch jubelnd in den Armen liegen, wenn in der 90. Minute das Siegtor fällt?
Meyer: Ich könnte mir durchaus in dieser speziellen Konstellation vorstellen, dass das Jubeln in diesen Zeiten etwas anders aussieht. Aber spezifische Vorgaben für solches Verhalten auf dem Spielfeld möchten wir als Task Force nicht erteilen.
Kann man es so formulieren: So, wie wir Menschen im alltäglichen Leben mit unserem Verhalten über den weiteren Umgang mit den ersten Lockerungen entscheiden, so würden auch Spieler, Trainer, Betreuer über das Funktionieren der Geisterspiel-Lösung entscheiden?
Meyer: Ja. Wenn es dazu kommt, dass gespielt wird, hängt das Ganze an der Disziplin dieser Personen. Wir können dann von außen nur noch beobachten und vielleicht kleine Modifikationen vornehmen, wenn vorher nicht erkannte Schwachstellen deutlich werden. Das Konzept ist bereitgestellt. Aber wenn die Protagonisten undiszipliniert sind, dann können wir nichts machen.
DFL-Chef Christian Seifert hat gesagt, das Robert Koch-Institut würde das Konzept jetzt begutachten. Es wird damit von der obersten Bundesbehörde für Infektionskrankheiten beurteilt. Ihre Arbeit kommt also auf den Prüfstand. Gespannt?
Meyer: Sagen wir so: Das Konzept ist seit wenigen Tagen öffentlich. Und es gibt genug Leute, die eher kritisch darauf geschaut haben. Ich habe aber kaum inhaltlich Substanzielles gegen das Konzept gelesen. Die Einwände liegen eher auf einer prinzipiellen Ebene. Aber wir haben uns natürlich mit Kollegen und Experten ausgetauscht, auch aus dem Ausland. Die Konzepte in anderen europäischen Ländern sind sehr ähnlich.
Andere europäische Länder und die großen Ligen in England, Spanien oder Italien werden aufmerksam nach Deutschland schauen, wenn hier wieder Fußball gespielt werden sollte. Sie könnten dann die Blaupause liefern, wenn alles klappt. Erhöht das den Druck?
Meyer: Die Situationen in den einzelnen Ländern sind nicht direkt vergleichbar. Bei uns in Deutschland ist die Infektionssituation aktuell vergleichsweise günstig, wenn ich das etwa mit England vergleiche. Wir haben aktuell eher abfallende Zahlen von Infektiösen. Und wir haben eine immense Testkapazität im Land, was grundsätzlich abweichend ist von anderen Ländern. Deswegen: Blaupause ja, aber nur für Länder, die sich in einer ähnlichen Infektions- und Testsituation befinden.
Würden Sie den Clubs empfehlen, den Ernstfall eines Spiels zum Beispiel bei einem internen Trainingsspiel im eigenen Stadion einmal zu proben?
Meyer: Auf jeden Fall. Und wir werden das auch tun. Das ist Teil unseres Plans. Wir werden in einem Stadion die gesamten Abläufe einmal simulieren. Denn der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Irgendwas haben wir vielleicht übersehen. Sobald wir wüssten, dass es losgehen soll, wird dieser Termin gemacht.
Reichen zehn bis 14 Tage Mannschaftstraining als Vorlauf für die Profis, die zuletzt Anfang März gespielt haben, um erfolgreich einen Kaltstart hinzulegen?
Meyer: Die Spieler sind ja momentan nicht stillgelegt. Sie hatten zunächst heimisches Training und jetzt Kleingruppentraining. Die physische Fitness ist sicherlich nicht allzu schlecht. Ein Trainer hätte bestimmt vor dem Start gerne drei Wochen Mannschaftstraining und dazu zwei Testspiele. Aber das ist in der jetzigen Lage vielleicht nicht komplett umsetzbar. Einer möglicherweise höheren Verletzungsgefahr könnte man vermutlich am besten mit präventivem Training begegnen.
Sie sind auch Vorsitzender der Medizinischen Kommission der UEFA. Diese möchte irgendwann im Sommer die Champions League und Europa League zu Ende bringen. Wäre das noch schwieriger umsetzbar, weil es zu länderübergreifenden Spielen käme?
Meyer: Ja, das ist definitiv komplizierter. Alleine schon wegen der momentanen Reiserestriktionen. Da bräuchte man möglicherweise Ausnahmegenehmigungen. Zudem müsste man in verschiedenen Ländern von unterschiedlichen epidemiologischen Konstellationen ausgehen und vielleicht auch von unterschiedlichen rechtlichen Konstellationen. Die Schwierigkeitsgrade wären also an einigen Stellen deutlich höher. Der Vorteil ist: Dadurch, dass diese Spiele zeitlich nach hinten geschoben worden sind, gibt es mehr Ruhe in der Planung. Man kann abwarten, wie sich die Dinge insgesamt entwickeln.
Abschließend, glauben Sie daran, dass der deutsche Meister in diesem Jahr trotz Coronavirus noch sportlich ermittelt werden kann?
Meyer: Ich hoffe es ganz stark. Es wäre schön, wenn der Ball wieder rollt und auch ich bald wieder Fußball sehen könnte.
ZUR PERSON: Prof. Dr. Tim Meyer (52) ist Leiter des Instituts für Sport- und Präventivmedizin der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Er ist Chef-Mediziner des DFB und leitet in der Corona-Krise die «Task Force Sportmedizin/Sonderspielbetrieb» der DFL. Seit 2001 gehört der gebürtige Niedersachse zum Ärzteteam der deutschen Nationalmannschaft. Er war bei etlichen großen Turnieren im Einsatz, auch beim WM-Titelgewinn 2014 in Brasilien. Seit Juli 2019 ist Meyer auch Vorsitzender der Medizinischen Kommission der UEFA.
(dpa)