Paris – Als längst alles vorbei war, versagte Dagur Sigurdsson die Stimme. Minutenlang bekam der scheidende Handball-Bundestrainer kaum einen geraden Ton heraus, er hustete immer wieder, sein Hals war trocken.
«Ich brauche etwas Wasser», sagte der Isländer nach dem 20:21 im WM-Achtelfinale gegen Katar. Viel zu erklären gab es zu diesem Zeitpunkt aber ohnehin nicht mehr. Diese Niederlage sei «mit Abstand die größte Enttäuschung» seiner zweieinhalbjährigen Amtszeit. Dann verschwand er irgendwann in den Katakomben der Pariser Halle, am Montag schon folgte die Abreise aus der französischen Hauptstadt.
Was aber bleibt von dem 43-Jährigen, dem der deutsche Handball nach Ansicht zahlreicher Experten so viel zu verdanken hat? Der stille Abgang durch die Hintertür wird dem ehemaligen Spielmacher nicht gerecht. Dessen ist sich auch der Deutsche Handballbund bewusst und plant nach Aussage seines Vizepräsidenten Bob Hanning, Sigurdsson beim Allstar Game am 3. Februar feierlich zu verabschieden.
Als der Isländer den Posten des Bundestrainers im August 2014 übernahm, war der Sport in Deutschland am Boden. Jetzt verlässt er die Mannschaft nach einem Rückschlag, der aber erst wegen seiner erfolgreichen Arbeit so unerwartet wie überraschend kam. Mit dem sensationellen Gewinn des EM-Titels vor einem Jahr und der Bronzemedaille bei Olympia hatte Sigurdsson für die WM Erwartungen geschaffen, die noch vor zwei Jahren unvorstellbar waren.
«Für Dagur tut es mir am meisten Leid. Es war eine unfassbar positive Ära, die jetzt zu Ende geht», sagte Hanning. «Mit Bundestrainer Dagur Sigurdsson hat der deutsche Handball den Glauben an seine Möglichkeiten wiederentdeckt.»
Sigurdsson selbst war nach der Pleite am Boden. «Das ist ein sehr großer Schock für uns, eine große Enttäuschung», sagte er. Er wird mit seiner Familie nun von Berlin zurück nach Island ziehen. Von dort wird Sigurdsson dann regelmäßig nach Japan reisen, um dort das Nationalteam auf Olympia 2020 in Tokio vorzubereiten.
Trotz der misslungenen WM-Mission hinterlässt Sigurdsson im Deutschen Handballbund (DHB) tiefe Spuren. «Dagur hat das Denken im deutschen Handball nachhaltig geändert – das wird über seine Zeit hinaus wirken», hatte Hanning die Arbeit des dreifachen Familienvaters schon vor zwei Monaten gewürdigt, nachdem Sigurdsson seinen vorzeitigen Abschied nach der WM offiziell bestätigt hatte.
Doch nicht nur der DHB verliert etwas, sondern auch Sigurdsson. «Es wird schmerzhaft, diese Mannschaft zu verlassen», sagte er vor der WM in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur. «Sie wird wahrscheinlich in den nächsten Jahren auch Titel gewinnen, und dann ist es natürlich etwas bitter, dass man dann nicht dabei ist.» Er hätte sich wohl durchaus vorstellen können, Bundestrainer zu bleiben. Eine Betreuung der DHB-Auswahl von Island aus schloss der DHB allerdings aus.
Sigurdsson hat eine junge Mannschaft aufgebaut, die sein Nachfolger weiterentwickeln und bei den Olympischen Spielen 2020 in Tokio zu Gold führen soll. Die Bundesligatrainer Christian Prokop (SC DHfK Leipzig) und Markus Baur (TVB Stuttgart) sind die Anwärter auf den Posten, den Sigurdsson akribisch ausgefüllt hat. Wer auch immer es wird, wird ein schweres Erbe antreten. Nicht nur wegen seiner konsequenten Entscheidungen und seinem Erfolgsstreben strahlte Sigurdsson innerhalb des Teams große Autorität aus.
Zum Markenzeichen des Querdenkers wurde seine blaue Taktiktafel, die er oft sogar mit ins Bett nahm. Für seine Ehefrau Ingibjörg sei jene Tafel «schon manches Mal ein rotes Tuch» gewesen, schrieb Sigurdsson in seiner jüngst erschienenen Autobiografie mit dem Titel «Feuer und Eis: Mit Leidenschaft zum Erfolg». Halbe Nächte brachte er dann damit zu, «die kleinen Magneten hin und her zu bewegen, bis ich eine neue Spielkombination ausgetüftelt hatte.»
Beim Spiel gegen die Kataris hatte er die Tafel ein letztes Mal während seiner Auszeiten mit dem deutschen Team genutzt. Schon vor über zehn Jahren hatte er das mittlerweile krumme und verbogene Hilfsmittel als Spielertrainer des österreichischen Clubs A1 Bregenz bekommen. Er wird sie nun wohl auch bei seiner Arbeit in Japan nutzen. Möglich, dass er sich auf den langen Flügen von Reykjavik ins Land der aufgehenden Sonne an seine schöne Zeit beim DHB erinnert.
(dpa)