Oberhausen – Manuel Charr will werden, was Wladimir Klitschko war: Boxweltmeister im Schwergewicht. Am Samstag steigt der Kölner in Oberhausen gegen den Russen Alexander Ustinow um den Titel der WBA in den Ring.
Der 40-jährige Ustinow (35 Kämpfe/34 Siege) hat in knapp zwei Jahren nur einen Kampf bestritten. Charr (34/30) ist ohne Kampf in den vergangenen 14 Monaten. Beide sind in der Rangliste aber vorn dabei. Dass sie sich um die WM balgen dürfen, löst Erstaunen aus. «Toller Kampf. Aber gleich eine WM?», fragt der deutsche Verbandspräsident Thomas Pütz. Gewinnt Charr, wäre er erster deutscher Schwergewichts-Champion seit Max Schmeling 1932.
Charr versteht die Bedenken nicht. Hört man ihn reden, erweckt er den Eindruck eines Gutmenschen. «Ich war mal ein schlimmer Finger», sagt er dann und zerstört die Illusion. «Meine Kindheit bestand aus Klauen und Schlagen», gesteht Charr in einem Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. Die Vergangenheit ist stockfinster. Angeklagt wegen des Verdachts auf versuchten Totschlag mit anschließendem Freispruch, Untersuchungshaft wegen Autoschieberei, Messerstich in den Rücken, Bauchschuss beim Döner-Imbiss, Lebensgefahr, Notoperation. Charr balanciert in seinem Leben zwischen Totalabsturz und Tod. Die Kurve, so schwört er heute, habe er aber rechtzeitig gekriegt.
«Der Bauchschuss vor zwei Jahren», berichtet Charr, «war das zweite Mal, dass auf mich geschossen wurde.» Zuerst ist ihm das im Libanon widerfahren. Geboren als Mahmoud Omeirat Al-Charr muss er einen Bürgerkrieg erleben. «Überall knallte und explodierte es. Ich habe meine Kindheit mehr im Keller verbracht als bei Tageslicht», erzählt der 33-Jährige. Er erleidet einen Beinschuss. Der syrische Vater wird getötet. Die Mutter flieht mit den Kindern nach Deutschland. Dort findet er zum Kampfsport. «Der hat mir Anerkennung gegeben», sagt er.
Charr ist bei Sauerland und Trainer Ulli Wegner in Berlin, bei Universum und Trainer Fritz Sdunek in Hamburg, bei Felix Sturm in Köln. Bis zu den Sternen, von denen er immer träumt, kommt er nicht. Dann macht er sich selbstständig, gründet die Diamond Boy Promotion. Er gewinnt einige Kämpfe, und er verliert – gegen Vitali Klitschko, gegen Alexander Powetkin, gegen Mairis Briedis, allesamt Kaliber. Es folgt der Bauchschuss. Die Hintergründe sind unklar. Der Täter muss für fünf Jahre ins Gefängnis. «Ich habe ihm verziehen», sagt Charr.
Der Kölner lässt sein Leben Revue passieren. «Irgendwann fährt der Zug in die falsche Richtung. Dann macht man eine Liste: Was läuft falsch? Ich wollte mein Leben unter Kontrolle bringen», erzählt er. Er fährt nach Seefeld in die Alpen. Der Blick von den Bergen hinunter ins Tal habe seine Perspektive verändert. Ergebnis: «Ich habe mich von vielen Menschen getrennt.» Er lernt andere kennen, auch Unternehmer Christian Jäger aus Österreich. Der ist nun sein Manager.
Ob sein Wandel dauerhaft ist, muss er erst beweisen. «Wenn du an das Gute glaubst, kann dich keiner aufhalten», meint der Muslim. Er beschwört die Einhaltung der zehn Gebote als Grundlage für ein friedvolles Nebeneinander. «Ich habe Juden, Christen und Moslems als Freunde. Religion bedeutet Liebe.»
Vor sechseinhalb Monaten werden ihm zwei künstliche Hüftgelenke eingesetzt. Unfassbar: Schon im Krankenbett trainiert er. Und nun sogar eine WM? Manche Ärzte schütteln den Kopf und sagen: Niemals! Professor Walter Wagner, bekanntester deutscher Ringarzt, schließt es nicht aus: «Normalerweise sagt man, es braucht ein Jahr, bis die Prothesen eingewachsen sind. Es spricht für ihn und seinen Ehrgeiz.»
Charr sieht sich als medizinisches Wunder und Produkt einzigartiger Willenskraft. «Der Körper ist nur Material der Gedanken. Der Kopf entscheidet über Leben und Tod.» Die behandelnden Ärzte seien so begeistert von seiner Regeneration, dass sie ihn zu einem Kongress einladen wollen, sagt Charr. «Sie meinen, dass ich die menschliche Physik durchbrochen habe. Das ist so, als könne der Mensch plötzlich fliegen.»
Früher quälte ihn Arthrose in den Hüftgelenken.«Oben rum war ich 30 Jahre, unten rum 80. Die Schlagkraft kommt aber aus den Hüften. Ich war ein Pfeil ohne Bogen», doziert Charr und schwärmt: «Ich bin ein richtiger Boxer geworden.»
(dpa)