Mailand – Geht es nach den Power-Daten seines Rennrad-Computers, steht einem zweiten Coup von John Degenkolb beim Frühjahrsklassiker Mailand-Sanremo nichts im Wege.
«Die Werte sind auf dem Niveau von 2015. Leider gewinnen Power-Kurven und Wattwerte aber keine Rennen. Das ist dann doch etwas anderes. In den Rennen muss man einfach liefern können», sagte Degenkolb der Deutschen Presse-Agentur vor dem Auftakt der Klassiker-Saison am Samstag, wenn die 110. Auflage der Primavera über 291 Kilometer ansteht.
Mit Mailand-Sanremo verbindet Degenkolb beste Erinnerungen, schließlich feierte der gebürtige Thüringer dort 2015 seinen ersten großen Klassikersieg. Wenige Wochen später machte er sein Super-Jahr mit dem Triumph bei Paris-Roubaix perfekt. Danach lief es mitunter holprig. 2016 stoppte ihn ein schlimmer Trainingsunfall, und im vergangenen Jahr folgte eine Nasennebenhöhlenentzündung pünktlich zu den Saison-Highlights im Frühjahr. Diesmal ist alles anders. «Ich fühle mich gut und bin in der Verfassung, um am Samstag um den Sieg mitzufahren. Es passt», betont der 30-Jährige.
Degenkolb demonstriert Zuversicht und will seinem Team Trek-Segafredo endlich wieder einen Klassiker-Sieg bescheren. Als Nachfolger des großen Fabian Cancellara war er 2017 geholt worden, an die vielen Erfolge des Schweizers konnte er jedoch nicht anknüpfen. Dass er sich im letzten Vertragsjahr beweisen muss, ist Degenkolb bewusst. «Der Druck, einer der Kapitäne zu sein, ist ohnehin schon groß genug. Ich versuche, es nicht so nah an mich herankommen zu lassen.»
Ein Sieg würde helfen, wenngleich die Konkurrenz sehr groß ist. Der dreimalige Weltmeister Peter Sagan aus der Slowakei will im Trikot des deutschen Teams Bora-hansgrohe nach zwei zweiten Plätzen eine alte Rechnung begleichen. Auch der italienische Vorjahressieger Vincenzo Nibali gehört zu den Anwärtern, ebenso wie die Weltauswahl des auf Siege abonnierten Rennstalls Deceuninck-Quick Step. 18 Erfolge hat das belgische Team in der jungen Saison bereits eingefahren, allein sechs davon steuerte Tour-Bergkönig Julian Alaphilippe bei. Der Franzose werde am Samstag «markiert wie Diego Maradona durch Claudio Gentile», prophezeite die «Gazzetta dello Sport» mit einem Vergleich zum Duell zwischen Argentinien und Italien (1:2) bei der Fußball-WM 1982.
«Unserem Team mangelt es nicht an Optionen», erwiderte Alaphilippe und verweist auf seine namhaften Kollegen wie Ex-Weltmeister Philippe Gilbert aus Belgien, den früheren Cross-Champion Zdenek Stybar aus Tschechien oder den italienischen Topsprinter Elia Viviani.
Was Quick Step bei den Eintagesrennen ist, gilt für die britische Sky-Mannschaft in den Rundfahrten. Die Nachricht, dass der Rennstall ab Mai unter dem neuen Sponsor Ineos weitermacht und dann mit einem Rekord-Budget von 40 Millionen Euro unterwegs sein soll, hat auch Degenkolb verblüfft. «Das ist schon überraschend, weil sie schon so weit weg von allen anderen sind», sagte Degenkolb. Zumindest am Samstag dürfte Degenkolb von den Briten aber wenig zu befürchten haben, denn Skys bester Klassikerfahrer Michal Kwiatkowski aus Polen – der Sieger von 2017 – verzichtet auf einen Start.
Aus deutscher Sicht konzentriert sich alles auf Degenkolb, wenn am Samstag zwischen den Anstiegen Cipressa und Poggio auf den letzten 30 Kilometern die entscheidende Phase beginnt. Weitere deutsche Sieganwärter sind nicht auszumachen.
Degenkolb würde derweil im Kampf für einen sauberen Radsport auch nächtliche Dopingkontrollen in Kauf nehmen. «Ich weiß nicht, ob Kontrollen nachts um 2.00 Uhr den Unterschied ausmachen. Aber wenn das der Preis ist, wäre ich auch bereit, das zu machen. Wenn es Indizien gibt, dass dort vielleicht getrickst wird, muss man halt nochmal genauer hinschauen», sagte Degenkolb.
Ihm sei nicht bewusst gewesen, dass der Biologische Pass «so viele Schlupflöcher hat». Wenn im Umkehrschluss nun mehr und enger gestrickte Kontrollen nötig seien, wäre er bereit, mehr Privatsphäre aufzugeben. «Ich will mit gutem Beispiel vorangehen», sagte Degenkolb.
Mit Blick auf das mutmaßliche Erfurter Doping-Netzwerk hofft der 30-Jährige, dass «die ganze Geschichte komplett aufgeklärt wird». Auch auf die Gefahr hin, dass der Radsport womöglich wieder in die Negativ-Schlagzeilen rückt. «Jeder, der Dreck am Stecken hatte und mit im Boot saß, soll zur Rechenschaft gezogen werden», betonte Degenkolb und fügte hinzu: «Wir müssen immer hinterfragen, ob es mit rechten Dingen zugeht.»
Die Münchner Staatsanwaltschaft hatte zuletzt mitgeteilt, dass in der «Operation Aderlass» inzwischen gegen 21 Sportler aus acht europäischen Ländern und fünf Sportarten ermittelt werde. Ausgangspunkt waren Razzien bei der Nordischen Ski-WM in Seefeld/Österreich und Erfurt, wo der Sportarzt Mark S. als mutmaßlicher Drahtzieher mit seinen Hintermännern seit 2011 ein mutmaßliches Doping-Netzwerk betrieben haben soll.
(dpa)