Halle/Saale (dpa) – Als Waldemar Cierpinski am 31. Juli 1976 die Tartanbahn des Stadions von Montréal betrat, bekam er Gänsehaut. «Zum einen hat mich die Kulisse beeindruckt, zum anderen hat es plötzlich zu regnen begonnen», erinnert sich der 65-Jährige an die Szene vor dem Start.
Nach 42,195 Kilometern war der Hallenser der erste deutsche Marathon-Olympiasieger. An diesem Sonntag jährt sich zum 40. Mal ein Kapitel deutscher Sportgeschichte.
Auf dem regennassen Asphalt von Montréal lief Cierpinski dem Topfavoriten Frank Shorter aus den USA davon. Und vier Jahre später in Moskau triumphierte er erneut. Zweimal Goldmedaillengewinner auf der längsten Ausdauerstrecke der Leichtathletik – das gelang außer ihm nur Äthiopiens Lauflegende Abebe Bikila 1960 und 1964.
«Jeden zweiten Tag sprechen mich die Leute noch auf der Straße wegen der legendären Reportage von Heinz-Florian Oertel an», erzählte der zweifache Olympiasieger aus der Saalestadt. In Moskau sagte der Fernseh-Kommentator dann beim Zieleinlauf Cierpinskis jenen berühmten Satz: «Liebe junge Väter, oder vielleicht angehende: Haben Sie Mut! Nennen Sie ihren Neuankömmling des heutigen Tages ruhig Waldemar!»
Vier Jahre zuvor war es ein heißer Tag in der kanadischen Metropole am Sankt-Lorenz-Strom. Erst gegen Abend kühlte es in Montréal ab. Das Marathon-Feld rannte im hohen Tempo aus dem Stadion den Berg hoch und hinein in die Stadt. Eine Spitzengruppe von mehr als 20 Mann bildete sich, zu der auch Cierpinski gehörte. Dann verschärfte Shorter das Tempo, nur noch der Läufer im Nationaltrikot der DDR konnte folgen. «Wir haben uns mit Tempowechseln gegenseitig zermürbt. Bei Kilometer 35 auf einer Straßenüberführung auf dem Gelände der Universität konnte mir mein Rivale bergab nicht mehr folgen», erzählt Cierpinski.
Die Goldmedaille brachte dem Schützling von Trainer Walter Schmidt eine Reise nach Kuba mit der «Völkerfreundschaft» und 15000 DDR-Mark ein, die für einen Trabant Kombi und eine Garage drauf gingen.
Dabei hatte Cierpinski auf ein wichtiges Utensil verzichten müssen. Er hatte dreieinhalb Wochen lang eine kleine Flasche Rotkäppchensekt wie seinen Augapfel gehütet. Zwei Stunden vor dem Start wollte er den Muntermacher trinken, doch das Fläschchen wurde von den DDR-Gehern stibitzt, die damit die Plätze zwei bis vier von Hans-Georg Reimann, Peter Frenkel und Hans-Georg Stadtmüller feierten. «Als Entschädigung bekam ich vom damaligen Leichtathletik-Cheftrainer Werner Trelenberg eine große Flasche Rotkäppchensekt». Der Name Cierpinski taucht allerdings auch in den Forschungsarbeiten des Heidelberger Experten Werner Franke zu Staats- und Zwangsdoping in der DDR auf.
Cierpinski ist dreifache Familienvater geworden, sein ganzer Stolz gilt den beiden Enkel Lily und Waldemar-Roman. Von seinen drei Söhnen André, Martin und Falk wollte Letzterer in die Fußstapfen seines Vaters treten. Der zweifache Olympiasieger unterstützte seinen Filius bei diesem Vorhaben nach Kräften, aber er hat es nicht zu den Sommerspielen geschafft. «Falk hat sehr viel investiert und zeigte im Training ähnlich gute Leistungen wie ich zu meiner Zeit. Aber er bekam meist nach 25 bis 30 Kilometern immer wieder muskuläre Probleme, die das Erreichen des großen Ziels verhinderten», sagt Waldemar Cierpinski.
Der Geschäftsmann betreibt trotz seines bevorstehenden 66. Geburtstags am kommenden Mittwoch immer noch sein Sportartikel-Geschäft in Halle. «Ich kann es mir nicht leisten, meinen Beruf an den Nagel zu hängen. Ich bekomme 370 Euro Rente im Monat», erzählte der ehemalige Spitzensportler.
Am Sonntag wird Cierpinski, der seit 42 Jahren mit Maritta verheiratet ist, mit guten Freunden auf den Erfolg von vor 40 Jahren anstoßen. Die ganz große Party steigt aber erst am 8. Oktober am Vorabend des Mitteldeutschen Marathons von Leipzig nach Halle. «Dann sind alle Läufer meine Gäste, die am 9. Oktober die Marathondistanz in Angriff nehmen.» Angestoßen wird dann mit – Rotkäppchensekt.
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(dpa)