Berlin – Im Rückblick sieht vieles besser aus – für viele gerade die 90er Jahre. Im Kino und Fernsehen, in der Mode und der Musik und selbst im Museum begegnet einem das Party-Jahrzehnt wieder.
«Wir leben in Zeiten der Retrotopia, die Utopie liegt irgendwie in der Vergangenheit, weil uns momentan eine zukunftsfähige Vision fehlt», sagt Zukunftsforscher Tristan Horx. Die Neunziger-Nostalgie-Welle überrascht ihn nicht: «Diese Vergangenheitsmomente kommen immer wieder, mit den 70ern war es genauso.» Ein Überblick:
Mode
Klobige Plateau-Schuhe von Dockers oder Buffalo waren unter Jugendlichen ein Muss in den Neunzigern – heute laufen in Großstädten wieder viele junge Leute so herum. Auch beliebt: Unterbrusthosen von Levi’s, gerne kombiniert mit XL-T-Shirts, reingesteckt. Auch bei den Frisuren kommen Erinnerungen auf. Zwei Dutts wie das Spice Girl Mel B der berühmten britischen Girl-Group trug, sieht man wieder öfter. Bauchfrei sowieso.
Musik
Die Spice Girls waren die weibliche Antwort auf Take That, Backstreet Boys oder N’Sync: Die Neunziger waren das Jahrzehnt der Boygroups und kreischenden Teenagern. Als Take That sich trennten, nahmen sich manche Fans das Leben, was die Hip Hopper von Blumentopf zu ihrem traurigen Hit «6 Meter 90» inspirierte. Und heute? Erst im April startete in Berlin ein
Take-That-Musical, die Spice Girls wollen im Juni ein
Comeback wagen. Bei Motto-Partys spielt das Jahrzehnt schon lange eine Rolle: Von Captain Jack bis Ace of Base laufen die 90er dann rauf und runter.
Aber bei aller Nostalgie: Gegen den Disc- oder Walkman würden die meisten ihr Smartphone wohl nicht austauschen, glaubt Zukunftsforscher Horx. Eher gegen die Schallplatte. Womit man wieder bei den 70ern wäre. Alles Alte kommt also irgendwann wieder? «Es wird garantiert in zehn Jahren oder wann auch immer eine Millennial-Style-Nostalgie geben», sagt Horx.
Kino
Auf den T-Shirts prangen die «Ninja Turtles» oder «Beavis & Butt-Head», im Hintergrund läuft Nirvana und im Kinderzimmer steht ein Nintendo: Der melancholische Skateboard-Film «
Mid90s» bringt einen – wie der Titel schon sagt – mitten rein in das Jahrzehnt, in dem Skaten und Hip-Hop endgültig zur neuen Jugendkultur wurde.
Auch 2018 ließ das Kino die Neunziger aufleben: In der Doku-Satire «
I, Tonya» ging es um den wahren Fall der Eiskunstläuferin Tonya Harding, deren Rivalin Nancy Kerrigan kurz vor den Olympischen Winterspielen 1994 attackiert wurde – den Attentäter beauftragte Hardings Ex-Mann. Bis heute ist umstritten, ob Harding selbst davon wusste. Margot Robbie brachte die Rolle eine Oscar-Nominierung ein.
Fernsehen
Nicht nur der Fall Tonya Harding war in den Neunzigern in den Schlagzeilen – auch der Skandal um den ehemaligen Football-Profi O.J. Simpson beherrschte die Medien. Rund 95 Millionen Zuschauer verfolgten 1994 im Fernsehen, wie er sich eine Verfolgungsjagd mit der Polizei liefert. Seine Ex-Frau und ihr Freund waren zuvor in Los Angeles brutal ermordet aufgefunden worden. Vor Gericht sprachen ihn die Geschworenen später trotz erdrückender Beweise überraschend frei. All das ließ Netflix wieder aufleben: In «American Crime» wurde der Fall in zehn Folgen nacherzählt – unter anderem mit John Travolta («Pulp Fiction») und «Friends»-Star David Schwimmer.
Die Serie «Beverly Hills 90210» drehte sich um eine Clique verwöhnter Jugendlicher in Beverly Hills und war für viele in den 90ern Kult. Als Anfang März «Dylan» starb – besser gesagt Schauspieler Luke Perry – teilten viele ihre Trauer in den sozialen Medien («90s are gone»). Zuvor war bekanntgeworden, dass neue Folgen unter dem Titel «90210» geplant sind – die Schauspieler sollen sich selbst spielen und knapp 20 Jahre nach Ende der Original-Soap aufeinandertreffen.
Museum
«Here we are now, entertain us» steht auf einem Banner über dem Eingang zum Museum Alte Münze in Berlin-Mitte. Die Songzeile stammt aus dem Nirvana-Hit «Smells Like Teen Spirit». Party, Techno und Clubszene sind Teil der Dauerausstellung «
Nineties Berlin», aber auch die Folgen des Mauerfalls werden zum Thema gemacht.
«Natürlich denken die Menschen, das ist alles eine einzige Partyzeit gewesen, wenn man sich aber wirklich damit beschäftigt, weiß man, dass es grundsätzlich Existenzängste gab», sagt Geschäftsführer Quirin Graf Adelmann. Was die Leute trotzdem so an den Neunzigern fasziniert? «Der Freizeitimpuls. Frei zu sein von Normen, frei zu sein von räumlichen Beschränkungen, von organisatorischen Tagesabläufen, das ist das, was die Leute begeistert.»
«Eigentlich haben wir die beste Zeit erlebt, mehr ging nicht», sagt dann auch ein ehemaliger Hausbesetzer in einem der vielen Zeitzeugen-Videos. Sängerin Inga Humpe erzählt, dass sie 1989 bei der ersten Loveparade am Ku’damm dabei war, damals tanzten dort 150 Leute. Zehn Jahre später feierten mit 1,5 Millionen Menschen so viele wie nie bei dem Open-Air-Rave.
Im Museumsshop kann man Pacman spielen und andere Retro-Videospiele. Ein Turnbeutel trägt den Slogan «Get Lost» – damals wie heute wohl das Motto feierwütiger Berlin-Touristen. Die meisten Besucher der Schau seien zwischen 25 und 45, sagt Graf Adelmann. In den ersten sechs Monaten kamen 80.000 Menschen.
(dpa)