Hannover – Erst fühlte es sich wie verlängerte Ferien an, doch mittlerweile kommen viele Familien an ihre Belastungsgrenze: Die Corona-Pandemie zerstört den eingespielten Alltag.
Während Kinder bis vor fünf Wochen beim Weckerklingeln ungefähr wussten, wie ihr Tag aussehen wird, wachen sie heute ohne Aussicht auf Kita, Schule, Freunde-Treffen oder Vereinstraining auf. Mindestens bis zum 3. Mai bleiben die Kontaktbeschränkungen bestehen.
«Das Schlimmste ist die Ungewissheit, wie es weitergeht», sagt die Mutter von Jonte (3) und Frida (1) aus der Region Hannover. Mit ihrem Mann, der einen Handwerksbetrieb hat, arbeitet sie im Moment von zu Hause aus – so weit dies mit zwei kleinen Kindern überhaupt möglich ist.
Soziales Umfeld fehlt
Auch Kita-Kindern fehlen andere Kinder, Nachbarn und Großeltern. «Wann ist der blöde Husten endlich vorbei?», fragen sie, wenn sie an abgesperrten Spielplätzen vorbeikommen. Eltern sind plötzlich 24 Stunden lang ohne Unterstützer für die Betreuung, Bildung und Versorgung ihres Nachwuchses zuständig.
Sie sind Spielgefährten, Erzieher, Lehrer, Koch, Reinigungskraft und – quasi nebenbei – arbeiten sie auch noch. Laut Statistischem Bundesamt sind bei mehr als 2,2 Millionen Kindern bis 16 Jahren in Deutschland beide Eltern oder das alleinerziehende Elternteil in Vollzeit beschäftigt.
Mehr als die Hälfte der Beschäftigten arbeiten laut der
Mannheimer Corona-Studie immer noch an ihrer bisherigen Arbeitsstätte und nicht zu Hause. 25 Prozent sind im Homeoffice – vor allem Gutverdienende. «Die Wirtschaft kann nur funktionieren, wenn Eltern entlastet werden», kritisiert die Soziologin Katja Möhring, eine Autorin der Corona-Studie.
Wie lange halten Eltern die Einschränkungen noch aus?
«In den Geschäften, die jetzt wieder öffnen dürfen, arbeiten Eltern.» Die Politik müsse die Kinderbetreuung viel stärker berücksichtigen, fordert sie. Seit dem 20. März untersuchen Forscher mit täglichen Befragungen, wie die Krise das Leben der Menschen in Deutschland beeinflusst. Demnach haben Familien ihre sozialen Kontakte fast komplett heruntergefahren. «Das ist eine beeindruckende Leistung. Die Frage ist, wie lange dies Eltern durchhalten können», sagt Möhring.
Wie gut eine Familie die Krise bewältigt, hängt maßgeblich davon ab, dass die Beziehungen der Mitglieder intakt sind. Wer beengt wohnt, sei besonders gefordert, sagt der Kinderpsychiater Burkhard Neuhaus. «Große Enge kann sozialen Druck erzeugen.» Durch die Enge steige auch die Gefahr von Gewalt in Familien, in denen dies unter Umständen schon vorher ein Problem war.
Wenn die Nerven blank liegen
Die vom Bundesfamilienministerium geförderte Hotline «Nummer gegen Kummer» für Kinder, Jugendliche und Eltern hat ihre Sprechzeiten von zwei auf bis zu acht Stunden täglich erhöht. Überwiegend rufen Mütter an. Es gebe 22 Prozent mehr Anfragen, sagt Fachreferentin Christina Wiciok. Der persönliche Austausch zum Beispiel in Krabbelgruppen fehle. «Viele sagen: «Ich kann nicht mehr, ich schreie mein Kind nur noch an!»»
In der Corona-Krise liegen die Nerven blank. Neuhaus hat deshalb mit zwei Kolleginnen am Kinder- und Jugendkrankenhaus Auf der Bult in Hannover einen vierseitigen Eltern-Ratgeber geschrieben. Darin geht es unter anderem um die Bedeutung einer festen Tagesstruktur trotz fehlender Termine und um Lösungsvorschläge bei Streit.
Festgehalten werden sollen demnach Aufwach- und Schlafzeiten, regelmäßige gemeinsame Mahlzeiten, Lernzeiten für die Kinder beziehungsweise Home-Office oder Hausarbeit-Zeiten für die Erwachsenen.
Unterricht zuhause keine Dauerlösung
Die oft unübersichtlichen
Lernaufgaben für zu Hause belasten die meisten Eltern schulpflichtiger Kinder. «Es ist ein reines Chaos», sagt der Vorsitzende des Bundeselternrates, Stephan Wassmuth. «Wir Eltern sind keine Lehrer.» Ein dreiwöchiger Unterrichtsausfall sei noch zu kompensieren, drei Monate hingegen wären eine Katastrophe für die meisten Schüler.
Jetzt räche sich, dass jahrzehntelang die Digitalisierung an den Schulen verschlafen worden sei und es einen Sanierungsstau in Milliardenhöhe gebe. «Warum wurden denn nicht schon über Ostern Hygienemaßnahmen getroffen?», fragt der Elternvertreter. Auf den Schultoiletten fehlten vielerorts selbst Seifenspender. Dieses Thema beunruhige viele Mütter und Väter.
Eltern bleibe nichts anderes übrig, als im Punkt Schule die Ansprüche herunterzufahren, meint Chefarzt Neuhaus. Er rät, mit den Kindern möglichst oft in den Park oder in den Wald zu gehen, zu radeln oder zu joggen. «Bewegung und Licht wirken antidepressiv.» Eltern sollten darüber hinaus auf jeden Fall darauf achten, dass es ihnen trotz der Pandemie selbst gut geht: «Sich völlig zu verausgaben, ist nicht die Lösung.»
(dpa)