Moskau – An den öffentlichen Avancen einer älteren Dame wird Harry Kanes plötzliche Torflaute ganz sicher nicht gelegen haben. Doch der zeitliche Zusammenhang liefert zumindest eine Steilvorlage für Zoten und Witze.
Nach sechs Treffern bei seinen ersten drei WM-Einsätzen hatte eine betagte Lady Englands bestem Torjäger in einem Boulevardblatt Liebesdienste für das nächste Tor versprochen. Seitdem hat Kane nicht mehr getroffen.
Doch dafür gibt es sportlich nachvollziehbare Gründe, die sich zusammenfassen lassen mit der schlichten Erkenntnis: Sowohl Kane als auch die Three Lions sind einfach an ihre Grenzen gestoßen. «Es ist hart und tut weh», sagte Kane nach der 1:2-Halbfinal-Niederlage nach Verlängerung gegen Kroatien enttäuscht und ergänzte realistisch: «Wir können uns jetzt noch verbessern.»
Der Goldene Schuh des besten Torjägers, den Kane schon vor dem Turnier als Ziel ausgegeben hat, und Platz drei im Spiel gegen Belgien sind diesmal die Trostpreise, um die es für den Mittelstürmer von Tottenham Hotspur noch geht. Doch seine sechs Treffer sind auch ein Stück weit eine Mogelpackung. Fünf davon erzielte er in den ersten beiden Spielen gegen Tunesien und Panama, insgesamt dreimal war er per Elfmeter erfolgreich.
Englische Medien rechneten aus, dass Kane vor dem Halbfinale nur einen einzigen Torschuss hatte, der nicht aus einer Standardsituation resultierte. Was eher gegen seine Kollegen als gegen ihn spricht. In den großen Spielen fehlten dem Mittelstürmer einfach die Vorlagen. Doch gegen Kroatien hatte er die Chance und vergab sie, als er aus einem Meter und spitzem Winkel den Pfosten traf (30.). Das wäre das 2:0 gewesen.
Obwohl diese Szene nun symbolisch steht für Englands Scheitern, lässt Trainer Gareth Southgate Kritik an seinem Kapitän nicht zu. «Er hat das Team brillant durch die WM geführt», sagte Southgate: «Ich könnte nicht mehr von ihm als Kapitän oder als Mensch verlangen.»
Kane ist auch die große Hoffnung der Engländer darauf, dass diese überraschend gute WM nur der Start in eine Ära war. In der Premier League und Champions League hat er seine Klasse mehrfach gezeigt. Aus Alterssicht kann der 24-Jährige sicher mindestens noch zwei Weltmeisterschaften spielen. Und als Typ steht er geradezu sinnbildlich für das neue englische Team.
Kane ist keine Stil-Ikone wie David Beckham, kein Hallodri wie Wayne Rooney, keine Skandalnudel wie Paul Gascoigne und auch nicht der Typ eisenharter Brite wie Steven Gerrard oder Frank Lampard. Doch genau dafür lieben ihn die Fans. Er hat keine Tattoos, ist aber schon Vater und hat zwei Hunde. Seine Freundin hat er seit der Schulzeit, seinem Verein ist er seit 13 Jahren treu. Und er kann sich nach eigener Aussage sogar vorstellen, dass dies bis zum Karriereende so bleibt.
Harry Kane ist der positive, charmante Durchschnitts-Typ, danach sehnen sich die Briten in unsicheren Zeiten des Brexit. Dass dieser Durchschnitts-Typ ein außergewöhnlicher Fußballer ist, hat er schon oft gezeigt. Wenn auch nicht in den entscheidenden Spielen dieser WM.
(dpa)