Moskau (dpa) – Die Weltmeisterschaft in Russland neigt sich ihrem Ende und Höhepunkt zu. Vor dem Finale am Sonntag zieht die Deutsche Presse-Agentur Bilanz nach fast vier Wochen Spektakel, Sicherheitsfußball, Spielkunst, Show und Scheitern.
DIE SCHÖNE SEITE DES FUSSBALLS:
WM-Neulinge: Mit voller Begeisterung dabei – Island und Panama bereicherten trotz des Vorrunden-Ausschneidens das Turnier. Die Nordlichter mit ihrem tausendfachen «Huh!», die Mittelamerikaner mit ihren gerührten Fans und weinenden TV-Reportern, als erstmals bei einer WM ihre Nationalhymne erklang.
Spielstätten: Abgesehen von der Nachhaltigkeit und den immensen Kosten – Russland bot zwölf topmoderne, helle Stadien mit prächtiger Architektur und makellosem Rasen. Darunter die Final-Arena im modernisierten Luschniki in Moskau und das funkelnde Fischt-Stadion in der Olympiastadt Sotchi. Die Vorrundenspiele waren zu 97 Prozent ausverkauft, die Organisation klappte nahezu reibungslos. Seit die Teams mit den meisten Fans ausgeschieden sind, kühlte die Stimmung aber merklich ab.
Spannung pur: Bisher 19 Tore in der Nachspielzeit, dazu gab es in den K.o.-Spielen bereits viermal eine Verlängerung mit Elfmeterschießen. Die Luft vibriert, die Fans sind elektrisiert.
Fantasievolle Fans: Vor allem die weit hergereisten Anhänger aus Lateinamerika mit ihren Tänzen, Gesängen und wilden Kostümierungen verliehen der WM einen farbenfrohen Anstrich. Ausschreitungen gab es kaum, allerdings auch die wohl strengsten Einreisekontrollen und Sicherheitsmaßnahmen der WM-Historie.
Kaum Platzverweise: Gelb-Rot sahen trotz vieler knallhart geführter Partien bisher nur Deutschlands Jérôme Boateng und Russlands Igor Smolnikow, Rot der Schweizer Michael Lang und Kolumbiens Carlos Sánchez. In der Regel wussten die Profis genau, wo die Grenze liegt.
Hingucker: Frankreichs sprintstarker Kylian Mbappé, Englands Knipser Harry Kane, Belgiens bulliger Mittelstürmer Romelu Lukaku und Kroatiens Mittelfeld-Duo Luka Modric/Ivan Rakitic – da staunten Fans und Experten, was diese Stars auf den Rasen zauberten.
Fairplay: Portugals Superstar Cristiano Ronaldo half dem verletzten uruguayischen Stürmer Edinson Cavani im Achtelfinale vom Platz. Eigentlich eine große Geste, aber die Grenze zur Inszenierung verschwimmt halt oft beim Weltfußballer.
Gastgeber ganz groß: Der 70. der FIFA-Weltrangliste überraschte alle. Mit unbändigem Willen und dem «Rossija, Rossija!»-Gebrüll der Fans kam das Team von Nationaltrainer Stanislaw Tschertschessow bis ins Viertelfinale. Die Sbornaja schickte sogar Ex-Weltmeister und Titelfavorit Spanien nach Hause, das knappe Aus gegen Kroatien erwischte sie an einem denkwürdigen Ort: In Sotschi gab es vor vier Jahren die Medaillenflut für heimische Wintersportler, es folgte ein massiver Dopingskandal.
Funktionierender Videobeweis: Was wurde im Vorfeld über die Premiere des Video-Assistenten geunkt. Doch die Technik hat sich bewährt und häufig für mehr Gerechtigkeit gesorgt. Getrübt wird das Bild noch durch unterschiedliche Regelauslegungen.
DIE HÄSSLICHE SEITE DES FUSSBALLS:
Rassismus: Vor allem Spieler aus Einwandererfamilien sehen sich, wenn es mal nicht so läuft, mit Hass und Ablehnung konfrontiert. Auch in die Debatte um Mesut Özil mischen sich Rechtspopulisten und Rechtsradikale ein. Das schwedische Team stellt sich hinter seinen im Internet angefeindeten Spieler Jimmy Durmaz und gibt eine gemeinsame Botschaft: «Fuck Racism».
Unsäglicher Unsinn: Serbiens Trainer Mladen Krstajic sorgte mit seiner Kritik am deutschen Referee Felix Brych, dem er nach dem Schweiz-Spiel (1:2) den Prozess vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal machen wollte, für große Empörung. Die Strafe der FIFA in Höhe von 5.000 Schweizer Franken (4.340 Euro) fiel überaus milde aus.
Schwalbenkönig: Der hochveranlagte Neymar hat seine Spuren hinterlassen: statistisch mit zwei Toren und zwei Vorlagen, ansonsten als Schauspieler und Dauer-Lamentierer mit der albernen Spaghetti-Frisur. Für die spanische «Mundo Deportivo» war der brasilianische Superstar der «Neymal», «mal» wie schlecht.
Deutsches Debakel: Für Weltmeister Deutschland war in der Vorrunde als Gruppenletzter Schluss – eine historische WM-Pleite. Torwart Manuel Neuer nannte den Auftritt «bitter und erbärmlich». Bundestrainer Joachim Löw darf bleiben, der DFB hatte keinen Plan B.
Spielerisches Spektakel: Das blieb manchmal auf der Strecke. Sicherheit geht vor, hieß es bei vielen Teams. Lieber eine doppelte Abwehrkette. Und kein einziges Tor nach einem Fallrückzieher oder unnachahmlichem Solo – stattdessen geht der Trend zum Treffer nach einer Standardsituation.
Tribünenkasper: Argentiniens Fußball-Legende Diego Maradona gab ein trauriges, ja fast tragisches Bild ab. Als der 57-Jährige dann auch noch obszöne Gesten zeigte, schwenkten die Fernsehkameras weg.
Üble Auswüchse: Kolumbiens Abwehrspieler Carlos Sanchéz erhielt nach seiner Roten Karte bei der Niederlage gegen Japan Morddrohungen in den sozialen Netzwerken. Die Polizei in seinem Heimatland ermittelt, zumal Sanchéz im Zusammenhang mit Andrés Escobar geschmäht wurde. Der Nationalspieler hatte 1994 im WM-Spiel gegen die USA zum 0:1 ins eigene Netz getroffen und trug damit zum Vorrunden-Aus einer Mannschaft bei. Wenige Tage später wurde Escobar in seiner Heimat erschossen, vermutlich war sein Eigentor der Grund.
Wagenburg-Mentalität: Die FIFA verpflichtete die Teams zu mindestens einem öffentlichen Training, viel mehr bekamen die Fans aber von den Teams auch nicht zu sehen. Deshalb haben es die meisten auch aufgegeben, ihren Teams hinterher zu reisen. Spanien hatte keinen einzigen Anhänger in Krasnodar. In Deutschland ist die Entfremdung zwischen Nationalmannschaft und Fans ein großes Thema.
(dpa)