Frankreichs Ikone Thierry Henry als Belgien-Flüsterer

St. Petersburg – Mit Thierry Henry ist es ein bisschen so, als stünde Deutschland gegen die Niederlande im Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft und Miroslav Klose säße als Co-Trainer auf der Oranje-Bank.

Unrealistisch? In dem Fall sicher ja, beim Vorschlussrundenkracher Frankreich gegen Belgien am Dienstagabend in St. Petersburg aber Realität. Henry ist Rekordtorschütze und ehemaliger Kapitän der Équipe Tricolore, Welt- und Europameister sowie Fußball-Idol der Grande Nation – und will die Roten Teufel gegen sein Heimatland ins Finale bringen. «Ich denke, er weiß einiges über das Team Frankreichs. Er ist auf unserer Seite – er wird nicht zögern, uns diese Informationen zu geben», sagt Belgiens Verteidiger Thomas Vermaelen.

«Es ist bizarr, weil er Franzose ist und auf der Bank des Gegners sitzt. Für ihn muss es auch bizarr sein», sagte Frankreichs Coach Didier Deschamps bei Telefoot über seinen früheren Mitspieler. Stürmer Olivier Giroud bezeichnete Henry als lebende Legende des französischen Fußballs. «Ich hätte es vorgezogen, wenn er bei uns wäre und mir und den anderen die Ratschläge geben würde», meint Giroud. Der Angreifer hat bei der WM in Russland von den 14 Treffern der offensivstarken Franzosen noch keinen einzigen erzielt und will Henry nun aber zeigen, dass dieser im falschen WM-Camp gelandet ist.

Was auch immer Henry den belgischen Spielern beim Training erzählt und zuflüstert, er scheint den richtigen Ton zu treffen und die richtigen Worte zu finden. Neun verschiedene Torschützen zählen die Statistiker, das macht die individuell absolut hochkarätig besetzte belgische Mannschaft extrem unberechenbar. «Er spricht sehr viel mit uns, besonders mit den Stürmern», sagt Offensivspieler Nacer Chadli.

Und Henry weiß, wovon er spricht. Der mittlerweile 40-Jährige spielte 123 Mal für Frankreich. Henry erzielte 51 Tore, sechs davon bei Weltmeisterschaften, er lieferte 27 Mal die entscheidende Vorarbeit. Henry war 1998 ein wichtiger Teil der Mannschaft um den jetzigen französischen Chefcoach Deschamps, die in der Heimat erstmals Weltmeister wurde. 2000 stand Henry im Europameister-Team. 21 Länderspiele bestritten er und Deschamps gemeinsam, keins ging verloren.

«Das Schwierigste ist im Grunde genommen die Frage, ob er Frankreich verlassen hat oder Frankreich ihn», schrieb die Sportzeitung «L’Équipe» am Montag, die dem Thema gleich mehrere Seiten widmete. «Man hat mir nichts angeboten, niemals», zitierte das Blatt eine Aussage Henrys vor einigen Monaten. Nach der EM 2016 trat er den Job bei den Belgiern an. «Ich fühle mich geehrt, Assistenztrainer zu werden. Ich bin sehr aufgeregt», twitterte Henry damals.

Henry prägte in seiner ersten Zeit von 1999 bis 2007 den FC Arsenal, er spielte unter anderem auch noch für den FC Barcelona und Juventus Turin. «In der Geschichte wird das Bild eines außergewöhnlichen Stürmers bleiben», sagt Frankreichs Verbandschef Noël Le Graët, als Henry 2014 das Ende seiner Karriere bekanntgab.

Das unwürdige Handspiel, das Frankreich überhaupt erst zur WM 2010 in Südafrika brachte, die dann in einem denkwürdigen und fast beispiellosen Skandal für die stolze Auswahl der Grande Nation endete, ließ Le Graët in der offiziellen Mitteilung lieber unerwähnt. Mit dem linken Unterarm und dann auch noch mit der linken Hand legte sich Henry damals den Ball vor, um ihn in der Mitte auf William Gallas zu passen, der in der Nachspielzeit des Relegations-Rückspiels das 1:1 erzielte und den Franzosen so die WM-Teilnahme sicherte.

Die Iren mit ihrem bekannt temperamentvollen italienischen Star-Trainer Giovanni Trapattoni waren außer sich, selbst höchste politische Kreise schalteten sich ein und forderten ein Wiederholungsspiel. Henry gab sein Handspiel direkt nach dem Schlusspfiff zu: «Ich weiß, es ist schwer zu akzeptieren, wenn man die Wiederholung sieht.» Henrys bis dahin glänzende Reputation bekam Schäden ab.

Nach dem WM-Desaster mit dem Vorrunden-Aus und einer Spieler-Revolte trat Henry 2010 aus der Nationalmannschaft zurück. Bei seinem letzten seinem Spiel am 22. Juni 2010 in Bloemfontein gegen Gastgeber Südafrika (1:2) stand Hugo Lloris im Tor. Er wird auch am Dienstag versuchen, den Kasten der Franzosen sauber zu halten. Henrys Tipps hin oder her. Frankreichs Verteidiger Lucas Hernandez glaubt ja sogar, dass «die Fußball-Ikone» Henry auch zufrieden ist, wenn Frankreich gewinnt. Immerhin sei er ja immer noch Franzose.


(dpa)

(dpa)