Samara – England träumt vom Titel! Was an sich nicht neu ist. Denn die Sehnsucht nach dem ersten Triumph bei einer Fußball-WM seit 1966 gehört zum britischen Königreich wie Fish & Chips, Pubs und die Queen.
Was dieses Mal anders ist: Der Traum kann Wirklichkeit werden, denn England hat endlich wieder ein titelreifes Team. «Unsere Zeit ist gekommen. Alles deutet darauf hin, dass wir am 15. Juli den Pokal hoch heben dürfen», schrieb «The Sun». «Halbfinal-Götter» titelte der «Sunday Mirror» am Tag nach dem nicht berauschenden, aber souveränen 2:0 (1:0) im Viertelfinale gegen Schweden.
Erstmals seit 28 Jahren stehen die Three Lions bei einer WM wieder im Halbfinale, wo am Mittwoch in Moskau Kroatien der Gegner ist. «Ich war damals noch gar nicht geboren und jetzt schreiben wir unsere eigene Geschichte», sagte der überragende Torwart Jordan Pickford. 1990 war ein Schritt vor dem Endspiel im Elfmeterschießen gegen den späteren Champion Deutschland Schluss. 2018 wollen die Engländer ihren Weg bis zum Schluss gehen. Die Medien in der Heimat sprechen bereits von der «Southgate-Revolution», die ihre Krönung in einer Woche im Luschniki-Stadion mit dem Goldpokal erfahren soll.
«Wir haben den Jungs vor dem Spiel gesagt, dass wir noch eine Woche hier bleiben wollen», sagte Southgate, mit dem das neue England ganz eng verbunden ist. «Jetzt liegt es an uns, welche beiden Partien wir hier in Russland noch bestreiten.» Entweder Halbfinale und Finale oder Halbfinale und das unliebsame Spiel um Platz drei.
Doch England rüstet sich längst für das Finale am 15. Juli. Die nur rund 3500 englischen Fans in Samara schmetterten inbrünstig ihr «Football’s coming home», in der Heimat flippten Zehntausende vor den Fernsehern und Leinwänden auf den Plätzen und in den Pubs aus.
Selbst beim Tennis-Klassiker in Wimbledon drehte sich für 90 Minuten fast alles nur um den Auftritt der Three Lions in Russland. Bei Angelique Kerbers Drittrundensieg gegen Naomi Osaka blieben auf dem ehrwürdigen Center Court so viele Plätze frei wie wohl noch nie.
Zum Halbfinale wird nun endlich mit einer englischen Fan-Invasion nach Russland gerechnet. «Wir spüren die Euphorie in der Heimat, sie gibt uns viel Energie», sagte Kapitän Harry Kane. Der Torjäger blieb gegen Schweden blass, doch das kompensierten die Engländer im Kollektiv. Statt des Stürmers von Tottenham Hotspur trafen einfach Abwehr-Riese Harry Maguire (30. Minute) und Dele Alli (59.).
«Es ist unsere große Geschlossenheit, die den Unterschied macht», sagte Southgate. «Heute war es eine große Chance für uns, die wollten wir auf keinen Fall verpassen.» Dem Ex-Profi ist es nach vielen Jahren der Tristesse rund um das Nationalteam gelungen, eine Mannschaft zu formen, die spielerisch zwar nicht zu den besten gehört, die aber dennoch das Zeug zum ganz großen Coup hat.
18 Monate lang hat Southgate, im EM-Halbfinale 1996 noch bitterer Versager mit einem verschossenen Elfmeter gegen die DFB-Elf, hart daran gearbeitet, einen verschworenen Haufen zu formen, der sich der Bedeutung der Three Lions bewusst ist. «Wenn du Erfolg mit England hast, dann ist das so viel größer als jeder Erfolg im Club», sagte der 47-Jährige.
Mit diesem Stolz, das Nationaltrikot zu tragen, marschieren die Engländer durch das Turnier und versetzen ihre Landsleute in der Heimat in Ekstase. In einer Zeit, in der die Diskussionen um den Brexit das Land gespalten haben, ist das Nationalteam wieder wie früher der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält.
«Wir haben die Geister besiegt und gelernt, unsere Mannschaft wieder zu lieben. Her mit dem nächsten Gegner!», schrieb «The Times» am Sonntag. «Die Jungs kommen aus allen möglichen Gegenden daheim. Wir sind privilegiert, unser Land zu repräsentieren und unser Land zu vereinen», sagte Southgate voller Pathos.
Doch während auf der Insel das Bier in Strömen floss, blieb das Team in Russland bescheiden. «Wir sind noch nicht fertig», sagte Kane. «Die Zufriedenheit und der Stolz nach dem Spiel müssen genug für uns sein», sagte Southgate. Denn noch sind es zwei Schritte bis zur Unsterblichkeit. Der Glaube daran war in England aber seit 52 Jahren nicht mehr so groß. «Her mit Kroatien», schrieb «The Sun». «Er (der Fußball) kommt nach Haus», twitterte Fußball-Legende Gary Lineker.
(dpa)