Das WM-Rezept: Effizienter Ballbesitz und kreative Standards

Moskau – Kennen Sie eigentlich noch Packing? Der Taktik-Hype von der EM 2016 ist zumindest öffentlich bei der Fußball-WM in der Versenkung verschwunden.

Doch die statistischen Werte, wie viele Verteidiger mit Pässen überspielt werden, liefern die treffendste Vorhersage für die heiße Phase des Turniers in Russland: Mitfavorit Belgien liegt beim Vergleich von Offensive (56 gegnerische Verteidiger pro Partie überspielt) zu Defensive (30 eigene Verteidiger überspielt worden) weit vorne, gefolgt von Russland und Schweden. Alle acht Viertelfinalisten befinden sich unter den Top Neun – und der gestürzte Titelverteidiger Deutschland auf Platz 27.

Nur ein gutes Passspiel reicht aber noch längst nicht zum Triumph – welches sind die weiteren taktischen und spielerischen Schlüssel für den kommenden Weltmeister?

EFFEKTIVER BALLBESITZ

Die Zeiten, in denen reine Dominanz des Spiels schon zum Erfolg führte, sind endgültig vorbei. Spanien (74,5 Prozent Ballbesitz), Deutschland (72) und Argentinien (65,6) haben dies schmerzlich erfahren. Doch auch Brasilien, Belgien und England haben deutlich mehr Spielanteile als ihre Gegner. «Der reine Ballbesitz-Fußball ist völlig aus der Mode. Es sieht gut aus, ist aber nutzlos, wenn du keine Tore schießt», analysierte der deutsche Rekord-Nationalspieler Lothar Matthäus den Trend vor den Viertelfinals. «Deshalb sind diese Teams jetzt im Urlaub. Du musst effizient und schnell spielen.»

KREATIVE STANDARDS

In seiner persönlichen WM-Vorbereitung besuchte Englands Coach Gareth Southgate die USA und beschäftigte sich intensiv mit der NBA und NFL. Und die Laufwege seiner Spieler in Russland bei ruhenden Bällen erinnern frappierend an Strategien aus dem Basketball oder Football, um die Gegner wegzublocken. «Wir haben Standards als Schlüssel für dieses Turnier identifiziert», erläutert Southgate. Mit Erfolg: Drei der neun englischen Tore fielen nach Ecken und Freistößen, dazu kommen drei Elfmeter. Auch insgesamt fallen deutlich mehr Standardtore als bei früheren Turnieren.

AUSDAUER

Inzwischen können fast alle Teams in ihrer Grundordnung gut verteidigen – und die Mannschaften, die dies auch über die komplette Spieldauer schaffen, haben Erfolg. Als Paradebeispiel gilt WM-Gastgeber Russland, der nur zu gut einem Drittel den Ball hat, aber Spaniens Offensive entzauberte. Wichtiger Faktor ist dabei die Laufleistung: Erstaunliche 119 Kilometer, inklusive einer Verlängerung, liefen die russischen Spieler pro Partie – deutlich mehr als jede andere Nation. Auch der Wert von mehr als 400 Sprints ist unerreicht.

Kroatien besitzt ebenfalls eine hohe Durchschnittsgeschwindigkeit, die seinem schnellen Vertikalspiel entgegenkommt. Und die belgische Offensive hatte noch so viel Kraft, um im Achtelfinale nach einer Ecke Japans die komplette gegnerische Defensive zum entscheidenden 3:2 zu überlaufen. Insgesamt fielen laut FIFA schon 19 Tore in der Nachspielzeit der zweiten Halbzeit – sieben mehr als bei der kompletten WM 2014 in Brasilien.

ELFMETER-TRAINING

Frühere englische Trainer sahen Elfmeterschießen häufig als Lotterie an – wer Strafstöße als entscheidenden Teil des Spiels anerkennt, wird in Russland belohnt. Drei Elfmeterschießen und einen Rekord von 28 Strafstößen aus dem Spiel gab es bislang bei dieser WM, 21 von diesen wurden verwandelt. Begünstigt wird dies auch durch den Videobeweis, der alleine zu sieben Strafstößen führte. Die beiden südamerikanischen Vertreter Brasilien und Uruguay erzielten als einzige Viertelfinalisten bislang keinen Elfmetertreffer.

In der Runde der besten acht Teams entscheidet sich nun auch, welche taktische Schule sich durchsetzt: reiner Konterfußball oder effizienter Ballbesitzfußball. Zumindest wenn es nach den Packingwerten geht, würden die Halbfinalisten Frankreich, Belgien, Schweden und Russland heißen.


(dpa)

(dpa)