Sotschi – Wer stirbt schon gerne unter Palmen? In Sotschi an der sonnigen Schwarzmeerküste will Russlands WM-Überraschungsteam jedenfalls sportlich überleben und damit Geschichte schreiben.
Mit einem Sieg am Samstagabend im funkelnden Fischt-Stadion gegen Kroatien würde der Turniergastgeber erstmals seit 1966 in ein WM-Halbfinale einziehen – die damalige Sowjetrepublik scheiterte seinerzeit an Deutschland (1:2). Für den großen Traum mobilisiert der Fußballverband die Massen: Allein aus Moskau, St. Petersburg und Rostow am Don rollen rund 6000 Fans in Sonderzügen zu den Glitzerfassaden im Olympiapark.
Damit hält gut vier Jahre nach den Olympischen Winterspielen der Weltsport erneut Einzug in Sotschi, in einen Ort, «der wohl wie kein anderer für die Zerrissenheit des ambitionierten russischen Sports steht», wie die Zeitung «Kommersant» schreibt. Einerseits schuf Präsident Wladimir Putin – wie Zar Peter der Große, der St. Petersburg gründete – in Sotschi ein neues Russland, wie Staatsmedien schwärmen. Mit viel Geld ließ der Kremlchef im Süden des Riesenreichs ein neues Zentrum entstehen, in dem auch die Formel 1 gastiert.
Doch der Medaillenflut für heimische Wintersportler folgte ein massiver Dopingskandal, wegen dem Russland immer noch am Pranger steht. «Sotschi ist für viele zum Inbegriff für möglicherweise staatlich organisierten Betrug geworden», meint das Fachblatt «Sport-Express». Gerade die Heim-WM sollte da für die Strategen im Kreml für eine Art Neustart stehen, mit sauberen Sportlern und einer demonstrativen Willkommenskultur. Sollte die russische Nationalmannschaft ausgerechnet hier scheitern, wäre es ein melancholischer Abschied vom «Sommermärchen» Weltmeisterschaft.
Für deutsche Fußballfans steht Sotschi für die Unbeschwertheit der eigenen Mannschaft beim Confed Cup 2017. Von ihrem Basislager in der Stadt mit dem grauen Kieselstrand zog die veränderte DFB-Elf aus, um schließlich in St. Petersburg das Turnier zu gewinnen. «Für russische Fußballfans dagegen wirft Sotschi ein grelles Schlaglicht auf die Probleme des heimischen Fußballs», sagt der Sportjournalist Wladimir Rausch. Das rund 700 Millionen Euro teure Fischt-Stadion mit 45 000 Plätzen hat keinen Heimverein. Fußball findet hier selten statt.
Das soll sich ändern, und wie meist in Russland kommt der Impuls vom Staat. Damit es nach den sechs WM-Spielen nicht zur völligen Verödung in Sotschi kommt, muss der Zweitligist Dynamo St. Petersburg vom Finnischen Meerbusen ans rund 2000 Kilometer entfernte Schwarze Meer umziehen. Nachhaltig ist das alles nicht, ähnlich sieht es in anderen WM-Spielorten aus – etwa in Wolgograd. «Dass sich im Fischt-Stadion zum Beispiel gegen Tom Tomsk oder Fackel Woronesch viele Zuschauer einfinden, ist eher unwahrscheinlich», meint der Journalist Rausch.
Aber Sotschi steht wohl wie kein anderes Projekt für das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 vor Selbstbewusstsein strotzende Russland. Hier am Meer will sich das Riesenreich modern zeigen. Die luftige, bisweilen kühle Architektur soll an die Sommerfrische eines Ferienortes erinnern. Wie Schmucksteine funkeln Eisarenen und Stadien im Olympiapark. Kritiker hingegen sprechen von Gigantismus.
Wie geht es weiter mit Sotschi? Das Gastgewerbe in den benachbarten Wintersportorten Rosa Chutor und Krasnaja Poljana meldete solide Auslastungszahlen. Zahlreiche Tourismusanbieter setzen darauf, dass sich die Russen angesichts der politischen Spannungen mit dem Westen und der schwächelnden Wirtschaft für einen Urlaub in der Heimat entscheiden. Und geworben wird auch um Touristen aus China.
Zunächst aber soll Sotschi nach Willen der russischen Organisatoren als heller Punkt auf der Landkarte des Fußballs erstrahlen: mit einem Viertelfinal-Sieg gegen Kroatien. Für 17 Prozent der Russen ist das einer Umfrage zufolge sowieso nur ein Zwischenhalt – sie glauben an den WM-Titel für die Sbornaja. Vor einer Woche waren es nur acht Prozent. Der Überraschungssieg gegen Spanien hat Appetit gemacht.
(dpa)