München – Joachim Löw darf seinen Traumjob weiter ausüben, auch wenn er den Neubeginn nach dem historischen Vorrunden-Aus in Russland mit einem schweren WM-Rucksack angehen muss.
Nach einigen Tagen Bedenkzeit im Anschluss an den von ihm verantworteten Tiefpunkt der Nationalmannschaft beim blamablen 0:2 gegen Südkorea signalisierte der Bundestrainer dem DFB seinen Willen zum Weitermachen. Der wurde beim weltgrößten Fußball-Verband freudig begrüßt.
«Ich möchte mit ganzem Einsatz den Neuaufbau gestalten», äußerte der 58-jährige Löw in einer Verbandsmitteilung. In der DFB-Zentrale hatte zuvor die WM-Delegation um Präsident Reinhard Grindel, Vize Rainer Koch, Ligapräsident Reinhard Rauball und Generalsekretär Friedrich Curtius sowie Teammanager Oliver Bierhoff in einer kurzfristig anberaumten Sitzung bei Löw «eine ungebrochene Motivation und Energie» verspürt, «die Mannschaft auf die anstehenden Herausforderungen vorzubereiten».
Von Grindel («Jogi Löw wird uns zurück in die Erfolgsspur führen») über Bierhoff («Mich freut es sehr, dass es mit Jogi weitergeht») bis hin zu Kapitän Manuel Neuer wurde Löws Entschluss einhellig begrüßt. «Ich freue mich, dass wir mit Jogi Löw unseren lange Zeit erfolgreichen Weg fortsetzen können. Und ich habe das Vertrauen, dass wir gemeinsam wieder zu unserer Stärke finden», sagte der Torwart. Neuer hatte angekündigt, beim Neubeginn ebenfalls dabei sein zu wollen. Löws Vertrag war vom DFB Mitte Mai vorzeitig um zwei Jahre bis zur nächsten WM-Endrunde 2022 in Katar verlängert worden.
Erstaunlich ist, dass der Verband der Sportlichen Leitung um Löw und Bierhoff im Grunde gleich wieder freie Hand bei den erforderlichen tiefgehenden Veränderungen gewähren will. «Wenige Tage nach einem solchen Turnier-Aus eine umfassende Analyse einzufordern, wäre verfrüht», sagte Grindel. Bundestrainer und Teammanager sollen sich vielmehr «die notwendige Zeit» nehmen, um das Turnier sportlich aufzuarbeiten und dem Präsidium vor dem nächsten Länderspiel gegen Frankreich, «in dem wir in der Nations League gleich gefordert sind, eine umfangreiche Analyse vorstellen», erläuterte Grindel.
Löw äußerte große Dankbarkeit für das Vertrauen, «das der DFB weiterhin geschlossen in mich setzt». Er spüre «trotz der berechtigten Kritik an unserem Ausscheiden auch generell viel Rückhalt und Zuspruch», sagte der Weltmeistercoach von 2014. «Auch meine Enttäuschung ist nach wie vor riesig.» Eigentlich wollte Löw am Dienstag in St. Petersburg weilen, wo als Gruppenerster das Achtelfinale gegen die Schweiz auf dem Programm gestanden hätte.
«Ich werde gemeinsam mit meinem Team analysieren, Gespräche führen und zum Start der neuen Saison die richtigen Schlüsse ziehen», versprach er. «Das alles braucht Zeit, wird aber alles rechtzeitig bis zum Start in die neue Länderspielsaison im September geschehen.»
Löw will nach dem ersten Turnier-Fiasko seiner Amtszeit auch die Wende herbeiführen. Er ist der erste Bundestrainer, der sich nach einem Vorrunden-Aus bei einem Turnier im Amt halten konnte. Jupp Derwall (1984), Erich Ribbeck (2000) und Rudi Völler (2004) mussten jeweils nach einem K.o. in der Gruppenphase bei EM-Endrunden ihren Posten räumen – oder taten es freiwillig. Völler etwa wollte den Weg für einen unbelasteten Neuanfang Richtung Heim-WM 2006 freimachen.
Löw will wagen, was bei Berti Vogts vor 20 Jahren schiefging. Nach dem Aus im Viertelfinale bei der Weltmeisterschaft in Frankreich machte der Europameister von 1996 zunächst weiter. Das hinausgeschobene Vogts-Ende kam aber schon Anfang September nach einem enttäuschenden 2:1 gegen Malta und einem 1:1 gegen Rumänien. Ribbeck übernahm.
Löws Neustart erfolgt ebenfalls im September. Der tief gefallene viermalige Weltmeister Deutschland empfängt am 6. September in München Frankreich im Rahmen der neuen Nationenliga. Drei Tage später ist Peru in Sinsheim Testspielgegner. «Nach 14 Jahren erfolgreicher Arbeit müssen wir nun einen Neuaufbau starten», sagte Bierhoff. Der 50-Jährige stellte auch «strukturelle Veränderungen» in Aussicht.
Dass Löw nicht hinwarf, überrascht Bundesliga-Macher nicht. «Jeder, der die Szene seit vielen Jahren kennt, konnte daran riechen, dass es genau so kommen wird», sagte Borussia Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke. Niemand in der Liga forderte: Löw raus!
Dieser liebt seinen Job. Löw hat sich in ihm eingerichtet. Er hat die Nationalmannschaft und ihr Umfeld ganz nach seinen Vorstellungen ausgerichtet. Sie war – bis zum kompletten Systemausfall in Russland – sein Jogi-Wunderland. Für Grindel ist der Schwarzwälder ein «herausragender Bundestrainer», der ein «glaubwürdiges Gesicht des deutschen Fußballs» über die nationalen Grenzen hinaus sei.
Ein einfaches Weiter-so werden sich aber auch Löw und Bierhoff nicht leisten können. Auch Grindel erwartet, dass nach dem WM-Debakel «die richtigen Schritte» eingeleitet werden. Denkbar sind Veränderungen in Löws Assistentenstab, ebenso im Team hinter dem Team.
Ein Umbruch muss sicherlich beim Spielerkader erfolgen. Löw wird personell neue Reize setzen müssen, sich für einen überzeugenden Aufbruch auch von verdienten Weltmeistern trennen müssen. Was wird aus Sami Khedira (31)? Oder aus Mesut Özil? Der WM-Prügelknabe wird wie die Abwehrrecken Mats Hummels und Jérôme Boateng noch in diesem Jahr 30. Kapitän Neuer ist sogar 32. Geht Löw mit ihnen die EM 2020 an? Die erfahrenen Toni Kroos und Thomas Müller sind dagegen erst 28 Jahrer alt. Zurückgetreten ist bislang kein WM-Akteur.
Löw hatte vor dem WM-Untergang selbst den Schnitt angedeutet, den er nach dem Confed-Cup-Gewinn 2017 mit einem jungen Perspektivteam um Draxler, Werner, Goretzka oder Kimmich noch nicht konsequent ziehen wollte. «Wir haben einige Spieler, die 30 und etwas älter sind, die schon lange dabei sind. Es kann durchaus sein, dass es nach der WM Veränderungen gibt», sagte Löw. Er skizzierte selbst ein Bild der Zukunft: «Eine Mannschaft in einem Zeitraum von vier Jahren von einer WM zur nächsten mit vielen jungen Spielern vorzubereiten, das macht mir unheimlich Spaß.» Löw wird aber nicht erst 2022 in Katar liefern müssen. Er muss ganz schnell zeigen, dass er noch der Richtige ist.
(dpa)