Moskau – Die Jagd auf den fünften Stern beginnt. Joachim Löw und sein Team begleiten zum Auftakt der Fußball-WM in Russland nach einer sportlich holprigen Vorbereitung und der Dauerdebatte um Ilkay Gündogan und Mesut Özil aber auch leise Zweifel Richtung Russland.
Für das große Ziel einer ersten erfolgreichen Titelverteidigung in 84 Jahren deutscher WM-Geschichte muss mit der Ankunft im Teamquartier in Watutinki vor den Toren Moskaus alles klappen, das weiß auch Weltmeister-Trainer Löw.
Sorgen muss der stolze wie ehrgeizige Turnier-Gastgeber Russland im Gegensatz zum deutschen Titelverteidiger hingegen offenbar nicht haben. Das versichert zumindest FIFA-Chef Gianni Infantino. Trotz anhaltender Kritik aus dem westlichen Ausland an der Politik von Russlands Präsident Wladimir Putin bemüht er schon vor dem ersten Anpfiff am Donnerstag (17.00 Uhr) mit dem Eröffnungsspiel zwischen Russland und Saudi-Arabien Superlative. Die beste WM aller Zeiten? «Ja!» – so das Vorab-Lob des Weltverbandspräsidenten.
«Ich bin sehr froh über das, was wir erwarten können», sagte Infantino. «Russland will bei dieser WM der Welt beweisen, dass es ein offenes Land ist, in das Menschen kommen können, in dem Menschen feiern können, Fußball feiern können. Russland hat viel zu bieten, Geschichte, Kultur», sagt Infantino, der in einem FIFA-Video symbolträchtig mit Putin den Ball jonglierte. Investitionen von zehn Milliarden Dollar flossen von den Gastgebern in die Vorbereitung.
Der FIFA-Chef muss – das ist logisch – sein Mega-Projekt im guten Licht darstellen. Andere sehen die 32 Turniertage vom 14. Juni bis zum Finale am 15. Juli kritischer. Angriffsfläche bot Russland reichlich: Der Mega-Doping-Skandal, über den auch WM-Cheforganisator Witali Mutko stolperte, Hooligan-Gewalt bei der EM 2016 in Frankreich und die mit dünnen Argumenten ausgeräumten Korruptionsvorwürfe um die WM-Vergabe durch eine FIFA-interne Untersuchung waren nur einige der Kritikpunkte seit dem skandalumtosten Zuschlag vor fast acht Jahren.
Als Argumente haben die Russen: Alle zwölf Stadien sind auf internationalem Top-Niveau und wurden rechtzeitig fertig. Praktisch alle WM-Tickets sind vergriffen. Die deutschen Partien sind schon lange ausverkauft. Alle Fans können mit einer Fan-ID ohne Visum nach Russland reisen. Russland kämpft gegen Vorurteile, meint Infantino.
Auch die Vorsitzende des Föderationsrates, Valentina Matwijenko, sieht ihr Land zu unrecht ins falsche Licht gerückt. «Jetzt kommen Millionen Gäste und werden das wahre Russland sehen, die wahren Russen, und der Infokrieg wird sie nicht beeinflussen können.» Putin will über Fußball reden: «Bei uns im Land gibt es sechs Millionen Menschen, die Fußball spielen, und viele mehr, die ihn lieben.»
Löw geht es in gewisser Weise ähnlich. Der Fußball muss wieder in den Mittelpunkt. Nach der Testpleite gegen Österreich (1:2) und dem mauen Erfolg gegen Saudi-Arabien (2:1) muss er bis zum deutschen Turnierstart am Sonntag (17.00 Uhr) im Finalstadion Luschniki noch einige Feinarbeiten leisten. «Die Details müssen stimmen», sagte er der Deutschen Presse-Agentur vor dem Abflug nach Russland.
Mit dem Einzug ins Teamquartier in Watutinki, ziemlich genaue eine Marathondistanz von 42 Kilometern vom Roten Platz im Herzen Moskaus entfernt, soll die Diskussion um die Fotos von Özil und Gündogan mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan endlich beendet sein.
Nach dem Auftakt gegen Mexiko stehen in der Gruppe F noch die Spiele gegen Schweden in Sotschi (23. Juni/20.00 Uhr) und gegen Südkorea in Kasan (27. Juni/16.00 Uhr) an. Reicht es nicht zum Gruppensieg, könnte es im Achtelfinale zum Kracher gegen Brasilien kommen.
Löw kennt die Risiken und Hindernisse auf dem Weg zum erhofften historischen Coup genau. Jede Ablenkung kann sich entscheidend negativ auswirken: «Deutschland wird gejagt werden wie nie», sagt der Bundestrainer und verlangt vom Team um den gerade rechtzeitig genesenen Kapitän Manuel Neuer «übermenschliche Kräfte». Nur Italien (1934/1938) und Brasilien (1958/1962) konnten ihre WM-Titel erfolgreich verteidigen. Deutschland scheiterte bei allen bisherigen drei Versuchen (1958, 1978, 1994) schon vor dem Finale.
Löw wird seine Titeljäger aber wie gewohnt nicht nur auf die sportlichen Aufgaben vorbereiten. Russland als Gastgeber bietet wie Brasilien vor vier Jahren logistisch knifflige Bedingungen. Elf Spielorte in vier Zeitzonen und mit Entfernungen von tausenden Flugkilometern fordern den DFB als Planungsweltmeister. Jekaterinburg liegt am Rande des Ural drei Zeitzonen östlich von Berlin. Der westlichste Spielort Kaliningrad ist hingegen der deutschen Hauptstadt geografisch näher als dem WM-Herz Moskau.
Teammanager Oliver Bierhoff betont immer wieder, dass die riesigen Entfernungen in einer zähen Planungsphase auch für das Basis-Camp Watutinki vor den Toren Moskaus sprach und gegen Löws Wunschort Sotschi am Schwarzen Meer.
Dort wohnen nun die Polen um Bayern-Stürmer Robert Lewandowski und die Brasilianer mit dem wie Neuer kurz vor dem Turnierstart von einer Verletzung zurückgekehrten Neymar. Die Angreifer sind zwei Kandidaten um die Rolle als WM-Superstar. Portugals Cristiano Ronaldo und Argentiniens Lionel Messi wollen sich bei ihrer womöglich letzten Chance endlich den jeweils schon dreimal verpassten WM-Sieg holen.
Doch die Konkurrenz um den Status als Turnier-Held ist groß. Ägyptens Mohamed Salah rechnet mit einer rechtzeitigen Rückkehr nach seiner Schulterblessur aus dem Champions-League-Finale mit dem FC Liverpool gegen Real Madrid. Harry Kane von Tottenham Hotspur will Englands nun schon 52 Jahre währende WM-Misere beenden.
Turnierfavorit sind für viele nicht erst seit dem grandiosen 6:1 im März-Test gegen Argentinien die Spanier. Andrés Iniesta könnte sich nach 2010 wie die DFB-Stars um Toni Kroos und Özil zum zweiten Mal den Gold-Pokal holen.
Lukrativ ist der WM-Sieg auch wirtschaftlich. Die durch die Skandal-Jahre eigentlich klamme FIFA hat das Preisgeld auf die Rekordmarke von umgerechnet 668 Millionen Euro um rund 40 Prozent im Vergleich zu Brasilien 2014 angehoben. Der Weltmeister bekommt im besten Fall etwa 32 Millionen Euro. Der symbolische Wert des fünften Weltmeister-Sterns wäre für Joachim Löw ohnehin unbezahlbar.
(dpa)