Stuttgart – Nicht Angelique Kerber, nicht Maria Scharapowa, sondern die Schwäbin Laura Siegemund triumphierte beim Tennis-Turnier in Stuttgart. Anders als Kerber hat Siegemund ihre Ergebniskrise 2017 überwunden. Ihre Geschichte ist die eines Wunderkinds, das spät das Glück fand.
Es war ein kleiner Moment, der verdeutlichte, dass sich Laura Siegemund an die Rolle einer Turniersiegerin noch gewöhnen muss. Als sie nach ihrem dramatischen Final-Erfolg auf dem Centre Court das Mikrofon in der Hand hielt, war sie erst nicht sicher, ob sie auf Deutsch oder Englisch beginnen sollte. Dann plauderte sie einfach los. Für die 29-Jährige war es bei ihrem Heimspiel ein aufregender Sonntag, an dem sie mit dem famosen 6:1, 2:6, 7:6 (7:5) über Kerber-Bezwingerin Kristina Mladenovic ihren zweiten WTA-Titel und den größten Erfolg ihrer Karriere feierte.
«Es war wirklich gigantisch. Das ist der schönste Moment gewesen, der schönste Tennismoment für mich», sagte die Lokalmatadorin, als sie sich rund eineinhalb Stunden nachdem die Tränen sie überwältigt hatten, den Fragen der Journalisten stellte. Den Pokal hatte sie mitgebracht und neben sich auf den Tisch gestellt.
Wer Siegemund mit der Trophäe strahlen, wer sie beim Porsche Grand Prix spielen und siegen sah, kann sich kaum vorstellen, dass ihre Karriere eigentlich schon mal beendet war. Doch ihre Geschichte ist die eines Tennis-Wunderkindes, das erst spät ihr großes Glück auf dem Platz fand. Als Jugendliche wurde die Metzingerin gefeiert, musste Vergleichen mit Steffi Graf standhalten, zerbrach aber am Druck.
Erst als sie eine Karriere-Pause einlegte, fand sie die Gelassenheit. Nach zu vielen Pleiten entschloss sie sich 2012, das Profi-Leben zu beenden. Studierte Psychologie, bestand ihren A-Trainer-Schein. Der Titel von Siegemunds Bachelor-Arbeit: «Versagen unter Druck».
Gegen die 23 Jahre alte Französin Mladenovic, bislang eine der erfolgreichsten Spielerinnen der Saison, meisterte der schwäbische Wirbelwind den Druck famos. Auf Angelique Kerber haben vielleicht viele als Finalistin gesetzt – oder zumindest gehofft. Möglicherweise auch auf Maria Scharapowa, deren Rückkehr nach dem Dopingvergehen glückte. Aber Wildcard-Inhaberin Siegemund? Nicht bei diesem hoch dekorierten Feld. «Das ist nicht nur eine unglaubliche körperliche und spielerische Leistung, sondern vor allem auch mental», lobte Bundestrainerin Barbara Rittner nach dem Triumph im SWR.
Die Geschichte des Endspiels spitzte sich im dritten Satz zu. Nur kurz ließ sich Siegemund irritieren, als sie bei 5:4 zum zweiten Mal wegen Zeitüberschreitung verwarnt wurde und ein wichtiger Punkt an Mladenovic ging. Ein Rückstand im Tiebreak hielt sie nicht auf. «Ich war wirklich ruhig und wusste, was ich zu tun hatte», sagte sie.
Vor einem Jahr war Siegemund mit ihrem überraschenden Finaleinzug bei ihrem schwäbischen Heimspiel plötzlich in den Blickpunkt gerückt. Über Jahre etablierteren Kräften im deutschen Damen-Tennis wie Andrea Petkovic und Sabine Lisicki hat sie den Rang abgelaufen. Dies verdeutlichte auch der Blick auf die neue Weltrangliste: Siegemund ist als 30. zweitbeste Deutsche hinter Kerber. Petkovic wird auf Rang 79 geführt, die noch verletzte Lisicki auf Platz 113.
In der Regel tritt sie sympathisch redselig auf, auch wenn sie bei ihrer herausragenden Serie in Stuttgart teils zurückhaltender und angespannter wirkte. Auf dem Platz spielt die Viertelfinalistin von Rio «unterhaltsames Tennis», wie Mladenovic lobte. Sie klebt nicht an der Grundlinie, sondern rückt ans Netz vor, hat ein feines Händchen für Volleys und Stopps. «Das ist schon sehr durchdacht das Ganze», sagte sie. «Ich bin mit Sicherheit eine taktische Spielerin, die die Spielzüge plant.» Vieles ist aber auch Intuition.
In den ersten Monaten der Saison reihte sich frühe Niederlage an frühe Niederlage. Erst mit dem Wechsel auf Sand kam der Erfolg, schon in Charleston hatte Siegemund das Halbfinale erreicht. «Das ist oft ein ganz schmaler Grat. Ich habe nicht das Gefühl gehabt, dass ich irgendwie in einer spielerischen Krise bin», erklärte sie.
Stuttgart fühlt sich für sie inzwischen wie ein «Wohnzimmer» mit einem «gewissen Wohlfühleffekt» an, in dem manche Siege leichter fallen mögen. Nun ist Siegemund gefragt, ihr Selbstbewusstsein mit in die nächsten Aufgaben zu nehmen und die Ergebnisse zu bestätigen.
(dpa)