Berlin (dpa) – Kaum eine Hochzeit kommt um Desserts in kleinen Einmachgläsern herum. In deutschen Großstädten baumeln Leica-Kameras an Hälsen von Hipstern und Touristen. Und Millionen Füße stecken in den soliden Werten der Vergangenheit – die Birkenstock-Sandale erlebt einen neuen Boom.
Auf einmal sind Marken beliebt, die schon bei Eltern und Großeltern angesagt waren. Vier Gründe, weshalb deutsche Retro-Marke im modernen Lifestyle so erfolgreich geworden sind.
Von bieder zu schick
Lange war Birkenstock in Deutschland als Ökolatsche verpönt. Dies änderte sich spätestens, als Céline-Designerin Phoebe Philo dem deutschen Schuhhersteller international zu Glamour verhalf. Bei der Vorstellung einer neuen Kollektion in Paris ließ sie Models in Birkenstock über den Laufsteg gehen – was global für Aufsehen sorgte: Seither haben sich die
Google-Suchanfragen nach Birkenstock fast verdreifacht.
«Alte Marken sind nur erfolgreich, wenn sie zeitgemäß wirken. Die Leute wollen keine Produkte der Vergangenheit kaufen. Birkenstock steht für Gesundheit, Ökologie, präsentiert diese Werte aber in einem modernen Look», erklärt Professor Martin Fassnacht, Inhaber des BWL-Lehrstuhls der Otto Beisheim School of Management. Inzwischen reicht das Sortiment neben dem Klassiker mit breiten Schnallen zu Modellen mit Silberschnallen oder Kunststoff in Neonpink.
Der Wille zur Veränderung
Der Erfolg von Birkenstock zeige: «Retro» müsse einhergehen mit dem Willen zur Weiterentwicklung, sagt Anneke Neuhaus von der Frankfurt University of Applied Sciences. Das Vertrauen zu einer Marke könne dauerhaft nur gehalten werden, wenn Innovationen nicht vernachlässigt werden. Diese Kehrtwende hatte
Leica gerade noch geschafft. Vor zehn Jahren stand der Kamerahersteller aus Wetzlar (Hessen) mit dem Rücken zur Wand. Das Unternehmen hatte Ende der 90er Jahre den Einstieg in die Digitalfotografie verpasst. Anfang der 2000er war Leica finanziell angezählt.
«Das Problem war nicht, dass die Innovationen fehlten – sondern dass Leica damit nicht immer etwas anzufangen wusste», schreibt das Wirtschaftsmagazin «Capital». Nach einer Kapitalerhöhung kam das Unternehmen 2010 zurück in die Erfolgsspur: Es schaffte mit der erfolgreichen M-Serie den Sprung ins digitale Zeitalter, entwickelte neue Kameramodelle, alle fanden reißenden Absatz. Im Februar verkündete das Unternehmen den nächsten wegweisenden Schritt: Eine Kooperation mit dem chinesischen Handyhersteller Huawei.
Oft werden Parallelen zwischen der Erfindung von Leica-Kameras und der Erfindung von Handys gezogen. Oskar Barnack – Feinmechaniker der Optikfirma Ernst Leitz in Wetzlar – schraubte 1914 das Modell der ersten Kleinbildkamera zusammen. Ein Meilenstein für die weitere Entwicklung der Fotografie. Das Schleppen kiloschwerer Fotokästen und Stative gehörte mit der Kleinbildkamera der Vergangenheit an. Ein anderes Fotografieren war möglich: Überall, beweglich, mittendrin.
Weniger ist mehr
Zuletzt verkündete Leica im April ein Rekordumsatz von 365 Millionen Euro für das vergangene Geschäftsjahr – das Zweieinhalbfache im Vergleich zum Umsatz Mitte der 2000er. Wer mit Leica fotografiert, trägt ein Statussymbol um den Hals – mit dem Wert eines Kleinwagens. «Manche Leute kaufen wenige Produkte. Aber für diejenigen, die sie kaufen, sind sie bereit, viel Geld auszugeben, in der Hoffnung, dass die Produkte lange halten», sagt Marketing-Experte Sascha Friesike.
Beim Weniger-ist-mehr spielt ein weiterer Punkt eine Rolle: «Vor allem Retro-Marken bestechen mit ihrer Einfachheit: das Produkt scheint mir vertraut, auch ohne weitere Erklärungen», sagt Anneke Neuhaus, Marketing-Professorin an der Frankfurt University of Applied Sciences.
Das Gefühl von Harmonie und Sicherheit
Beispiele hierfür reichen vom antiken Messing-Ventilator über die Digital-Kamera ohne Display bis zur eingelegten Gurke, bei der Vorfreude und Optik schöner sind als das fertige Resultat. «Heute werden Desserts und Slow Food in kleinen Gläschen serviert, damit die Gäste auch im Stehen miteinander ins Gespräch kommen können», sagt Fassnacht. «Den Trend, den wir im Alltag beobachten, dass Snacks und Essen to Go immer beliebter werden, macht auch vor Buffets nicht Halt», sagt Fassnacht. Rund 40 Millionen Euro hat der Hersteller der Weck-Gläser mit Sitz in Wehr (Baden-Württemberg) im vergangenen Jahr umgesetzt. Den Großteil seiner Geschäfte macht Weck mit der Herstellung von Gefäßen für das Gewerbe und die Gastronomie.
Nur zehn bis zwanzig Prozent würden mit Einmachgläsern umgesetzt – als «Einwecken» wird es von Vielen fast automatisch mit der Marke in Verbindung gebracht. «Die Welt ist unübersichtlicher geworden. Je größer die Unsicherheiten, desto mehr orientieren sich Menschen an Vertrautem. Traditionsmarken geben Orientierung und Sicherheit», sagt Neuhaus. «Irgendwann schaut man sich als Erwachsener wieder Marken an, die aus der Kindheit vertraut sind, selbst wenn man sich früher über sie lustig gemacht hat.»
Interview mit Marketingexperten
Während uns die zunehmende Technisierung überfordert, erleben Produkte mit dem Hauch der Vergangenheit eine neue Blüte, erklärt Professor Sascha Friesike. Der Marketingexperte, der an der Universität Würzburg und dem Berliner Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft lehrt, sieht im Retro-Trend eine gesellschaftliche Gegenbewegung.
Plötzlich sind alte Dinge wieder angesagt. Steckt dahinter eine Logik?
Professor Sascha Friesike: Retro ist eine Art Fluchtreflex auf zu viel Neues. Unternehmen haben einen riesigen Druck, Innovationen auf den Weg zu bringen. Und dadurch werden wir überflutet mit Produkten. Dinge von denen es zu viele gibt, verlieren jedoch an Wert, sie erleiden eine Inflation. Beispiel Musik. Für meinen Vater war die Plattensammlung ein Heiligtum. Heute kann ich für neun Euro monatlich bei Streamingdiensten so viel Musik hören wie ich möchte. Und damit kann diese Musik nicht mehr so viel wert sein wie früher. Gleichzeitig erleben Platten einen neuen Trend als Produkte, die an alten Werten orientiert sind und zu denen wir irgendwie ein anderes Verhältnis haben.
Wir hören Vinyl und surfen auf unserem Tablet. Ist das nicht widersprüchlich?
Friesike: Technisierung sorgt für eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Produkt aber auch damit, wie wir das Produkt eigentlich nutzen. Als PDAs, die kleinen tragbaren Computer, Ende der 90ern aufkamen, mit denen man Termine oder Kontakte speichern konnte, schaffte die Kladde ein Comeback. Plötzlich waren Menschen bereit, statt der üblichen fünfzig Cent zwanzig Mal so viel für ein kleines Notizbuch auszugeben. Moleskin boomte, die Kladde war ein Reflex gegen den Trend alles elektronisch zu notieren. Das heißt: In dem Moment, in dem eine technische Entwicklung beginnt, fange ich an, mir Gedanken über mein eigenes Verhalten zu machen. Das heißt aber nicht, dass es eine komplette Flucht vor Technik ist.
Warum nehmen wir uns überhaupt mehr Zeit für Produkte von früher?
Friesike: Wir hetzen von einem Event zum nächsten und werden dabei von unzähligen Apps ständig unterbrochen. Retro-Produkte zwingen uns dazu, uns intensiver mit einem Produkt auseinanderzusetzen. Wenn ich meinen Kaffee selbst mahle, hat das einen meditativen Touch. Wenn ich mich bewusst mit einem Produkt beschäftige, steigt gleichzeitig auch meine Bereitschaft, mehr Geld dafür auszugeben. Beim Essen ist diese Gegenbewegung derzeit das Weglassen von Zusatzstoffen. Besonders gut sieht man das beispielsweise bei Eiscreme. Gut laufen die Eisdielen oder die Sorten von Herstellern, die versprechen, dass ihr Eis quasi nur aus Sahne, Milch, Ei, Zucker und einem Geschmacksträger besteht. Eis, das also so hergestellt wird wie früher. Dahinter steckt auch irgendwo eine Trotzreaktion, nicht jedem Trend hinterherzurennen, sondern Dinge, die funktionieren so zu lassen.
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